Notorische Skepsis, andauernde Befürchtung des Eintretens der schlimmst möglichen Wendung – beides schien eingekerbt in sein Gesicht; im früh schon kahlen, kugelrunden Schädel: Traurig hängende Wangen, bitterer Zug um die Mundwinkel, weit aufgerissene Augen mit stechendem, scheinbar alles befragendem Blick, changierend zwischen Gottergebenheit und Aufruhr, Fatalismus und Spott.
So einer hat es nicht leicht in der Schauspielerei. Keine Heldenstatur, kein Liebhabertyp; überhaupt: kein Daseinsfroher. Ein störrisch ruppiger Einzelgänger in kollektivistisch arbeitender Branche – doch mit unversiegbarer Leidenschaft fürs Spiel, für die Figur, für den Text. „Der Künstler ist Handwerker“, sagte er. Kunst sei Kärrnerarbeit. Noch als über Achtzigjähriger stand er auf der Bühne: „Einzupacken wäre wohl in meinem Alter meine Aufgabe. Ich kann aber nicht aufhören. Da muss man mich siebenmal totschlagen.“ Doch jetzt ist Schluss! Der große Schauspieler Jürgen Holtz hat aufgehört. Er starb am Sonntag 21. Juni im gesegneten Alter von 87 Jahren in Berlin.
Er hatte schon immer sehr große Hoffnungen und sehr hohe Ansprüche. War einer, der immer alles auf den Prüfstand warf, nichts hinnahm. Das macht das Leben nicht leichter.
Jürgen Holtz, Jahrgang 1932, stammend aus kleingutbürgerlichen Verhältnissen, kam mit zwanzig ans Deutsche Theaterinstitut Weimar. Nach drei Jahren Studium erste Praxis in der Provinz (Erfurt, Brandenburg); von 1960 bis 1964 Greifswald. Dort machte er, zusammen mit Regisseur Adolf Dresen, zum ersten Mal DDR-Theatergeschichte: Als clownesker Hamlet, eine damals aufrührerisch unverschämte Sicht auf die erhaben-klassisch tradierte Figur. Eine Art Erweckungserlebnis fürs DDR-Theater, fürs konservative Greifswalder Mehrheitspublikum eine Schändung. Für die poststalinistischen Kunst-Funktionäre die reine Bilderstürmerei. Ein Sakrileg. Fortan klebt das Dissidentensiegel wie Pech sowohl an Dresen als auch an Holtz – und dazu der schöne Ruf des avantgardistischen Geheimtipps.
Heiner Müller sah diesen durchtriebenen Spaßmacher-Hamlet und holte Holtz schnurstracks nach Berlin an die Volksbühne, wo er den Titelhelden bei der Peter-Hacks-Uraufführung „Moritz Tassow“ (Regie: Benno Besson) spielte – wurde wie zuvor „Hamlet“ alsbald verboten. Von den eigenen Kollegen, nämlich der SED-Parteigruppe der Volksbühne. Holtz noch im Rückblick sauer: „Was für Idioten sich da versammelt hatten. Der Eiter der Welt. Und dieser fürchterliche, kleinkarierte bürgerliche Naturalismus, den man ansonsten pflegte. Ich lebte durch meine Arbeit mit Dresen und Besson im vollen Bewusstsein dieses Unglücks; wusste, dass man am Theater für etwas arbeitet; für etwas, das alle Herrlichkeiten und alles Böse des Daseins vorführt, auf dass das Publikum vor sich selbst erschrecke. Und für einen Traum, für etwas Besseres, Schönes vielleicht …“
Mit dieser Sehnsucht stand der gern grantelnde Einzelgänger nicht allein. Wie andere Künstlerkollegen auch wurde Holtz immer wieder kaltgestellt. Wurden Inszenierungen und Filme, an denen er mitmachte, verboten. Trotzdem holte man ihn, er war halt zu gut, ans große erste Haus im kleinen Land: ans Deutsche Theater Berlin. Wo er zwischen 1966 und 1974 gerade mal zehn Rollen bekam. So ging der Staat um mit seinen kostbaren Kunst-Ressourcen.
Dann drei Holtz-Jahre Berliner Ensemble. Dort war – kurzzeitig – Tauwetter angesagt. Unter Ruth Berghaus, die sich gegen den altstalinistischen Brecht-Gralshüter Manfred Wekwerth als Intendantin durchgesetzt hatte. Im Frühling 1975 durften dank Berghaus die als unbotmäßig geltenden Regisseure Einar Schleef und B.K. Tragelehn Strindbergs „Fräulein Julie“ inszenieren; mit Holtz, Jutta Hoffmann und Annemone Haase. Ein in die sozialpsychologische Abstraktion getriebener zwischenmenschlich-tragischer Aberwitz. Ein Coup, den die Intendantin alsbald mit ihrer Absetzung bezahlen sollte.
Dieser Coup aber war wieder so ein Meilenstein auf der (schmalen) Sonnenseite der DDR-Theatergeschichte: Aufgelöste Geschlechterrollen, stets Sinn machender Übermut und Abgrund; das gesellschaftliche Unten und Oben im verwirrenden Clinch mit Plastikpenis, Bühnenbodenzerhackung. Und Julie-Hoffmanns spektakulärer Abgang im sentimental bauschenden Ballkleid aus weißem Tüll über die Stuhllehnen und Köpfe des verdatterten Publikums im Parkett hinweg. Raus ins Freie! Unerhört! Aufgelöste Konventionen! Wie aufregend. Eine erregend plausible Verfremdung. Eine befreiende Klatsche in die Visage der DDR-Kleinbürgerei. – Holtz: „Dabei hatten wir uns bloß mit einer Sehnsucht beschäftigt. Nämlich dem Text sein Innerstes abzugewinnen. Wochenlang haben wir Strindberg immer wieder nur gelesen. Ohne Ansehen der Person oder Rolle. Immer im Kreis. Wie eine Kaffeemühle. Losgelöst von jedem Zeitplan, befreiend und gelassen frei sich fallen lassend, bis quasi aus dem Nichts was Neues, Stimmiges entstand.“ Freilich eine Kärrner-, aber auch eine Lustarbeit – wurde selbstredend nach wenigen Vorstellungen abgesetzt.
Einem Text sein Innerstes abgewinnen, um es dann körperlich und sprechtechnisch auf den Punkt zu bringen, so arbeitete Holtz, der erklärte Gegner Stanislawskis mit dessen „Sozialnaturalismus“. Holtz wehrte sich gegen jedwede programmatisch zweckbestimmte Arbeit auf der Bühne. Sein Motto war: Raus aus der Darstellerei und rein ins erfindungsreiche, herrlich ins Offene fantasierende Spielen, freilich ohne sich dabei jenseits des Textes zu verlieren. Schön schwierige Sache, doch, so Holtz, der einzige Weg zur Kunst wahrhaftiger Menschendarstellung. Immerhin: Er konnte es!
Doch der Blick auf Kollegen verführte diesen altgedienten Anti-Einfühl-Spieler noch im hohen Alter zu Seitenhieben auf unsere Bühnengegenwart: Der Text werde zur Hure degradiert, Regisseure spielten sich auf als Autoren, als alles besser wissende Dramaturgen, die selbstherrlich die Macht übernommen hätten. Das zeitgenössische Theater habe Angst vor Poesie und Anmut, traue sich selbst nicht mehr, sei eingeschüchtert, fest gefahren in fataler Ignoranz des Publikums. Es pflege allzu gern und wider besseres Wissen die durch einfältige Medien als wichtig gefeierten „Events“. „Quotenpornografie.“ Das platt Spektakuläre oder das abgehoben Unkapierbare als Sackgassen, in denen sich das Publikum letztlich verliere, von denen es sich womöglich gar angewidert abwende. Düstere Aussichten. Dennoch Holtz’ vage optimistisches Bekenntnis, sein Trotzdem: „Das Theater ist nicht tot zu kriegen!“ Womöglich aber müsse es sich – wieder – neu suchen und erfinden als das, was es eigentlich sei, nämlich „ein Ort magischer Verlebendigung der Toten und der Worte der Dichter“.
Als er in Jürgen Goschs Inszenierung vom „Sommernachtstraum“ den Puck spielte im Deutschen Theater, da stellte sich ihm schlagend heraus: „Ist meine Lebensrolle; habe ihn in einer grünen Turnhose mit einer Blechflöte und sonst nichts gespielt. Der Puck, das bin ich. Mein Beruf heißt Schauspieler und nicht Schau-Prediger oder Schau-Selbstdarsteller. Spiel ist der größte Moment von Freiheit. Ist Weltvergessenheit. Dabei verschenkt man sich. Stellt sich auf die Bühne und ist nackt, egal, ob man was anhat oder nicht.“ – In Frank Castorfs „Galilei“-Inszenierung am Berliner Ensemble stand er tatsächlich nackt an der Rampe. Holtz damals, 2019: „Das muss so seins; dieser Galilei ist auf gewisse Art weltfremd, er hat etwas von einem Kind, das spielt, wie Gott es geschaffen hat, also nackt. Man muss volles Risiko eingehen, sonst geht das nicht.“ Wahrlich atemberaubend; wir erschraken und staunten.
Zurück ins Jahr 1977. Da wechselte Jürgen Holtz retour zur Volksbühne zu Heiner Müller. Und durfte zu Gastspielen in den Westen. Nachdem eine Visum-Verlängerung für die Arbeit an Müllers „Auftrag“ unter Regie des Autors in Bochum selbst nach einjähriger Wartezeit nicht verlängert wurde, war 1983 Schluss mit DDR. Der längst hoffnungslos gewordene DDR-Staat mit seinem erstickenden Ungeist samt seiner professionell beflissenen Untertanen quälte ihn derart, dass er den „elenden Kleingartenverein“ wutentbrannt verließ – das Wort „Staat“ kam ihm dabei nicht über die Lippen. Also Ausreise für immer; und Engagements in München und Frankfurt.
Ein Jahrzehnt später kam dann der ganz große gesamtdeutsche Ruhm. Mit „Katarakt“, diesem, so Holtz, „Hirnerguss als 90-Minuten-Monolog“ von Rainald Goetz. Da grübelt ein einsam Alter über sein Leben und die Liebe („auch so eine Sache“). Mit diesem witzig vertrackten, für Holtz wie maßgeschneiderten Solo aus Gelaber und Geisteshöhenflug, Weltekel und Menschheitsanalyse am Schauspiel Frankfurt wurde er zum „Schauspieler des Jahres 1993“. Obendrein bekam er den Gertrud-Eysoldt-Ring. Weil: Ihm gelang viel mehr als die bloß virtuose Absonderung eines sperrigen Textes – nämlich „eine ergreifende, tiefgründige Menschendarstellung“.
Im gleichen Jahr avancierte Jürgen Holtz zum Star auch jenseits der Bühne: Als unverschämter Wessi-„Motzki“ mit verhasster Ostverwandtschaft (Jutta Hoffmann) im Fernsehen. Die Serie mit deutsch-deutschem Megagenörgel (Buch: Wolfgang Menge) brachte den Grimme-Preis, wurde Kult. Und war als befreiende Lachnummer gut für die Psychohygiene der Nation.
Im vorgerückten Alter – „ich bin Künstler, kein Rentner“ – bescherte ihm Claus Peymanns Berliner Ensemble unvergessliche Auftritte. Etwa als tragisch trauriger Held Titus in Botho Strauß’ Shakespeare-Adaption „Schändung nach Titus Andronicus“ (Regie Thomas Langhoff). Oder als grimmig aashafter Peachum in Robert Wilsons „Dreigroschenoper“-Inszenierung. Oder in Tschechows „Kirschgarten“ den uralten Diener Firs; Langhoffs letzte Arbeit vor dessen Tod. Holtz als vom Dasein elend gequälter Greis, der gelassen und nicht ohne kindliche, ja auch kindische Vorfreude weltverlassen und selig dem Paradies entgegen träumt.
Holtz, arg schnoddriger Urberliner, empfand zuletzt seine Heimatstadt als „ekelhaft, roh, grausam“. Als Geschnatter Babylons. Also installierte er, versteckt im Mecklenburgischen, sein Altersidyll. Baute ein fein Häuslein, pflegte einen Park mit Teich und Seerosen. Dort planschte er gern, ohne Badehose. Und pinselte seine großartigen kleinen Bilder (Kunstmarkt, bitte aufpassen!). Auch vollführte er dort gelegentlich gern ein locker minimalistisches Tänzchen nach klassischer Musik, beispielsweise Beethoven. – Tanzen, Singen, Lachen als das schwere Gemüt sowie die Schmerzen der morschen Knochen lindernde Therapie, gestand er. Obendrein wurde er nicht müde, gegen die Politik zu wettern. Und gegen eine Gesellschaft, die ihren Kulturetat gegen den Sozialetat ausspiele („Die Ideologie kompletter Staatsversorgung aufgeben!“). Und die das Theater als Mittel zwischenmenschlicher, gemeinschaftsstiftender Verständigung ignoriere und kaltblütig kaputt spare. „Eine solche Gesellschaft hat keinen Trost, alles wird zum Verkaufs-Objekt, eine ungeheuerliche Grausamkeit.“
Ach, der dienstälteste Schauspieler unseres Landes hat sich bis zuletzt schrecklich aufgeregt. Und der politischen Klasse zunehmend misstraut. Voller Zorn, und zwischendurch mit sarkastischen Lachern. „Meine Nationalität ist der Zirkus.“ Dabei spielte er liebevoll mit seinem süßen Hündchen auf dem Sofa. Das brauche er. „Bis ich verschwinde, wenn es mir langt.“
DIE WELT (online), 22.06.2020. Übernahme mit freundlicher Genehmigung des Autors und der Tageszeitung DIE WELT.
Schlagwörter: Jürgen Holtz, Reinhard Wengierek