23. Jahrgang | Nummer 14 | 6. Juli 2020

Berlin im Blick

von Erhard Weinholz

Ich muss mir doch des öfteren bewusst machen, dass ich in Berlin lebe, der Hauptstadt, Ziel so mancher Sehnsüchte. Das große Berlin … Und da lebe ich, gehe durch die Straßen.“ Im Sommer 1985 hatte ich das notiert, von Berlin, Hauptstadt der DDR, ist also die Rede; die Zeiten, als die Stadtverwaltung im Osten mit dem Titel Magistrat von Groß-Berlin an das wirklich große Ganze erinnerte, waren längst vorbei. Doch ob groß oder nicht so groß, besser als draußen im Lande war es hier allemal. Eines hatte der Osten der Stadt wohl sogar dem Westen voraus: In Kneipen wie dem Fengler in der Lychener Straße saßen schimpfende Rentner und müde Werktätige einträchtig Seit’ an Seit’ mit jungen Lebenskünstlern aus der Provinz und desillusionierter Intelligenz. In der einstigen Frontstadt dagegen lagen sie meist miteinander im Streit, und der ging auch weiter, als Berlin zur Bundeshauptstadt wurde, er verlor nur an politischem Gehalt: Im Jahre 2003 versetzten Zugezogene in Hier spricht Berlin – Geschichten aus einer barbarischen Stadt dem lokalen Stilbewusstsein, wenn man es denn so nennen will, einen ordentlichen Hieb, dem 2007 ein nicht ganz so harter Nachschlag folgte: Schaut auf diese Stadt. Neue Geschichten aus dem barbarischen Berlin.

Doch was scheren mich die Partys von Immobilienfirmen, die Missgriffe des neuen Praktikanten, der Dresscode auf der Kastanienallee? Ich folge eher den Spuren jener Inge, die einst durch alle Gassen dampfte; auf graue Jogginghosen, hier wenigstens gebe ich diesen Stilkritikern Recht, sollte man dabei aber verzichten, es sei denn, einem ist reineweg alles egal. Empfehlenswert sind hingegen alte Arbeitsjacken, Jacken in verwaschenem Blau. Sie geben ihrem Träger, wie mir scheint, eine gewisse Würde. Jedenfalls hier im Osten (beinahe hätte ich hier bei uns im Osten geschrieben).

Und wohin gehen wir nun? Immer nach Hause, wie es bei Novalis heißt? Nein, zunächst einmal zu einer Sparkassenfiliale, die noch Geld am Schalter auszahlt. Gezählt wird es maschinell, und da die Anzeige meist nicht gleich gelöscht wird, sehe ich, dass die unscheinbare alte Frau, die vor mir in der Schlange stand, ruckzuck 12.000 Euro in Fünfhundertern abgehoben hat. Was macht man eigentlich mit diesen Lappen? Einmal nur habe ich bisher einen in Gebrauch gesehen: Jemand hatte in einem Laden an der Mohrenstraße für etwas mehr als sechshundert Euro ein gutes halbes Dutzend Flaschen Whisky und Champagner gekauft und bar bezahlt.

Nächstes Ziel: eine sehr große Kaufhalle, faktisch ein Land für sich – den Namen verrate ich aber nicht. Am besten kommt man von hier mit der Bahn hin, die Haltestelle ist gleich hinter der Kreuzung. Wir stehen dort zu viert; zwei der Wartenden haben das Logo der landeseigenen Krankenhaus-GmbH auf dem Jackett und sind richtige Packer. Sie flüstern miteinander, der eine ballt die Hand zur Faust … sind sie vielleicht zu Schuldnern unterwegs? Man muss als Patient nämlich bei stationären Aufenthalten zehn Euro pro Tag zuzahlen; Säumigen werden auf einem Formblatt wirklich und wahrhaftig Zwangsmittel angedroht. Man sitzt also zum Beispiel nichtsahnend zu Hause und kiekt Löcher in die Luft, auf einmal klingelt es: Die zwei Herren stehen vor der Tür, verlangen 30 Euro, aber ’n bisschen dalli! Und während man sie noch dumm anglotzt, saust einem eine Faust haarscharf am Kinn vorbei. So aufgefordert, zahlt man natürlich rasch und gern.

Der dritte Mitwartende kommt mir irgendwie bekannt vor, ich weiß nur nicht, woher. Er zupft an meinem Ärmel, weist schräg über die Kreuzung: „Nu kiekense sich dis ma an, da bei den 243er – in die eene Richtung sindse alle knackevoll … (kaum hat er zu sprechen begonnen, fällt mir ein, dass es Herr Schnauzky ist, der Gummiknüppelproduzent, von dem ich schon in Go west geschrieben habe*) … knackevoll, kamman woll saren, in die andere Richtung fast leer. Die könntense doch zur Entlastung ooch in die Richtung einsetzen, aba nee, daruff kommse nich. Allis Idioten hier in den Laden, allis plemplem!“ Die Bahn kommt, ich steige ein, Herr Schnauzky bleibt zurück.

Über meinen Einkauf gibt es nicht viel zu sagen: Ich schiebe meinen Wagen zwischen den Regalen entlang, packe dieses und jenes ein, das meiste davon später wieder aus, weil ich merke, dass ich es doch nicht brauche, und lausche dem Kaufhallenfunk. Heute ist Oldietag, eben sind die Tulpen aus Amsterdam an der Reihe, tausend rote, tausend gelbe, alle wünschen Dir dasselbe, da taucht auf die übliche Weise, nämlich wie aus dem Nichts, Herr Schnauzky auf und ruft mir kopfschüttelnd zu: „Wat is denn dit nu wieda fürn Blödsinn? Wennse alle dit selbe wünschn, denn reicht doch ooch n Dutzend, oda? Allis Idioten hier … “. Ja, der Herr Schnauzky, er ist, kurz gesagt, ein Phänomen.

Gut gekauft – gut gelaunt hieß es zu DDR-Zeiten … oder so ähnlich jedenfalls. In diesem Zustand will ich mir nun etwas gönnen und habe Glück: Der Automat vorn am Eingang, der vorhin außer Betrieb war, funktioniert wieder und schenkt für einen Euro pro Becher guten Kaffee aus. Etwas Sonderbares ist mir in dem Zusammenhang neulich aufgefallen – die progressive Preisgestaltung in einer Bäckerei im Wedding: 0,2 Liter Kaffee kosten dort 1,40 Euro, 0,3 Liter aber nicht etwa 2,10 oder gar nur 2,00, sondern 2,40 Euro. 0,4 Liter müssten dann 3,60 kosten und 0,5 glatte fünf Euro. Prüfe die Rechnung, lege den Finger auf jeden Posten … stammt wohl von Brecht, von Brechti, wie ihn die volksverbundene Presse heute nennen würde.

Der Kaffee ist getrunken, ich mache mich auf den Heimweg. Wird dieser Tag noch etwas bringen? Ja … eine Entdeckung am Straßenrand: Es liegt dort, gleich neben der Haltestelle, zwischen Pflasterunkraut ein schwarzer BH, so ein ganz kleiner Fummel. Auch auf dem Bürgersteig der Rochstraße habe ich unlängst einen gesehen.

Berlin – ein Ort für Abenteuer. Aber es sind die Abenteuer der Anderen.

* – Im Buch des Autors „Lokaltermin – Berliner Ansichten“ (trafo Literaturverlag 2018) – die Redaktion.