23. Jahrgang | Nummer 15 | 20. Juli 2020

Ach, mein Amerika!

von Arndt Peltner, Oakland

Der gewaltsame Tod von George Floyd durch einen Polizisten in Minneapolis war nur der Auslöser. Seit Wochen nun marschieren im ganzen Land Zehntausende von Menschen und protestieren gegen Polizeigewalt und „systemischen Rassismus“ in der amerikanischen Gesellschaft. Und diesmal sieht man die Demonstrationen nicht nur in New York, Chicago und San Francisco, sondern in allen großen Städten und kleinen Gemeinden werden Schilder mit „Black Lives Matter“, „I can’t breathe“ und die Namen von Getöteten hochgehalten. Vor Kirchen, an Verkehrsknotenpunkten, an Bushaltestellen stehen Menschen mit Masken und mit ihren Forderung, den tief verwurzelten Rassismus in den USA endlich zu bekämpfen. Amerika ist im Aufbruch, die kommenden Monate werden zeigen, ob es auch ein Umbruch wird.

Die Bilder von George Floyd gingen um die Welt. Erst das Video, auf dem zu sehen war, wie ein Polizist fast neun Minuten auf dem Hals des am Boden liegenden 46-Jährigen kniete. Auch dann noch, als dessen Hilferufe schon verstummt waren. Und dann das Wandbild von George Floyd, das an die Mauer des kleinen Ladens gemalt wurde, vor dem er verstarb. Seitdem marschiert Amerika. Doch der Ruf „I can’t breathe“ steht für viel mehr als nur für den Todeskampf von George Floyd. Er ist zum Symbol im Kampf gegen den tief verwurzelten Rassismus in den USA geworden.

„Die Proteste drehen sich um die strukturelle Gewalt, die rassistische Gewalt, die unglaubliche historische Ungleichheit und Unterdrückung der schwarzen Bevölkerung“, meint Howard Pinderhughes, Soziologie Professor an der University of California in San Francisco. Er führt das Red Lining an, eine imaginäre Stacheldrahtziehung in den amerikanischen Städten und Gemeinden. Die Regierung in Washington hatte dabei durch den sogenannten „National Housing Act“ von 1934 Nachbarschaften in A, B, C und D unterteilt. A war eine rein weiße Nachbarschaft, erstrebenswert für die Mittelklasse. Schon eine farbige Familie in der Gegend drückte den Grad von A auf B. Und das hatte dramatische Folgen, denn nicht nur, dass eine A-Straße „weiß“ sein sollte, also ausschließlich von Weißen bewohnt – die Stadtteile unterhalb von A wurden auch gezielt benachteiligt. Afro-Amerikaner wurden somit in Stadtteile gedrängt, in denen es schwieriger war, Hypotheken zu bekommen, Versicherungen zu kriegen, wo weniger geschäftliche und städtebauliche Investitionen getätigt wurden. Bis in die 1970er Jahre noch blieb diese Form der urbanen Diskriminierung gängige Praxis. Mit Folgen bis heute.

Sheila Savannah arbeitet für die gemeinnützige Organisation „Prevention Institute“ im Bereich „Social Justice“. Sie überlegt nicht lange auf die Frage, ob Redlining als moderner Stacheldraht gesehen werden kann: „Es ist wie Stacheldraht. Diese Praxis ist heute fast überall illegal. Doch die historische Bedeutung ist noch gegenwärtig. Wenn ich mir nur einige dieser Redlining-Karten ansehe, dann sieht man deutlich, wie sie Gang-Territorien geprägt haben, wie Schul-Rivalitäten entstanden sind, wie Autobahnen geführt wurden. Das Redlining wird nicht mehr benutzt, aber diese lange Geschichte durch viele verschiedene Bereiche hat einen dauerhaften Stacheldraht gebildet, den man nur beseitigen kann, wenn man ihn bewusst entfernt.“

Es waren und sind nicht nur die Grundstückspreise, die eine weiße Nachbarschaft von einer schwarzen unterscheiden. Sie sind vielmehr eine Reflexion der Rahmenbedingungen in den betroffenen Stadtteilen, die einst mit einem roten Stift markiert wurden: fehlende Parks, Supermärkte, keine Fahrrad- und Fußgängerwege, eine stärkere Umweltbelastung durch angesiedelte Fabriken, den Bau von Schnellstraßen mitten durch Stadtteile. Sogar grundsätzliche Infrastrukturprojekte wie Bürgersteige sind verwahrlost. Alles hängt davon ab, ob Stadtplaner einen Wert dafür in den betroffenen Nachbarschaften erkennen.

East-Oakland ist so ein Stadtteil, in dem die Folgen des Red Lining bis heute spürbar sind. Dr. Noha Aboelata hat 2008 genau hier die Roots Klinik am International Blvd. zwischen der 99. und der 100. Straße gegründet. An der Ecke ein Fast Food Restaurant, gegenüber ein Tätowierladen, daneben ein Corner Store, in dem man von Chips bis zu Alkohol alles kaufen kann. Dr. Noha, wie sie hier alle nennen, wartet am Rande des Parkplatzes, der in diesen Tagen für „Walk up“-Corona Tests genutzt wird. Anfangs richteten die Stadt und der Bezirk Alameda Testmöglichkeiten für Autofahrer ein, man konnte im Auto bleiben, bekam dort einen Abstrich. Doch Aboelata merkte schnell, dass damit ihre Klientel nicht erreicht wird. In East-Oakland haben viele keinen Wagen, das Geld fehlt dafür, sie konnten sich deshalb nicht testen lassen. Also reagierte die Roots Klinik schnell und einfach, Zelte wurden auf dem Parkplatz aufgestellt, nun kann man zum Test laufen. Das Ergebnis war schockierend, wie die Ärztin und Aktivistin erklärt. Von 1400 Tests fielen mehr als 12 Prozent positiv aus. Nur wenige Kilometer weiter östlich, in den Oakland Hills, einer wohlhabenderen Gegend, liegt die Infektionsrate gerade mal bei vier Prozent, im gesamten Bezirk bei fünf Prozent. Die Gesundheitsprobleme in East-Oakland seien riesig, erzählt Noha Aboelata: hoher Blutdruck, Diabetes, Herzerkrankungen, Asthma, chronische Lungenkrankheiten. Ideale Bedingungen also für das Corona Virus. „Was Red Lining geschaffen hat, sind Armutsbedingungen, die unsere Nachbarschaft empfänglich für gerade solche Krankheiten machen, die sich über die Luft ausbreiten. Das wird in einem Ausmaß verstärkt, wie wir es noch nie gesehen haben.“

„I can’t breathe“ hat hier noch eine ganz andere Bedeutung. Die Umweltprobleme und die Luftbelastung sind viel größer als in den weißen Nachbarschaften. Seit Generationen wachsen Afro-Amerikaner und Latinos in diesen Stadtteilen auf, die hohen Zahlen der „black and brown“ Infizierten und Toten in den Corona-Statistiken drückt genau diese Folgen des strukturellen Rassimus in den USA aus. In manchen Städten sind 30 und mehr Prozent der Betroffenen Afro-Amerikaner, Latinos und „Native Americans“.

Milwaukee in Wisconsin ist so eine Stadt. Jamal Smith ist der Koordinator für Gewaltprävention im Gesundheitsamt der Stadt Milwaukee. Er sieht die engen Zusammenhänge zwischen dem Red Lining, der Polizeigewalt und den hohen Corona Zahlen in seiner Community: „Der Rassismus war nie weg, auch wenn wir historische Gesetze, wie den ‚Civil Rights Act‘ von 1964, das Wahlgesetz von 1965 oder die Wohngesetze am Ende der 60er und in den frühen 70er Jahren verabschiedet haben. Das alles bedeutete nicht, dass der Rassismus auf einmal verschwunden und ausgemerzt war.“ Smith fordert daher eine breite Debatte nach dem Vorbild in Südafrika, die Gründung einer Wahrheits- und Versöhnungskommission, die 1994 am Ende des Apartheid- Regimes eingerichtet wurde. „Aber derzeit glaube ich nicht, dass Amerika bereit ist, die Folgen des Rassismus anzuerkennen. Es gibt noch immer genügend Menschen in diesem Land, die das bestreiten.“ Deshalb, so Jamal Smith, werde im ganzen Land protestiert, deshalb marschieren die Menschen von Washington bis Los Angeles, von Des Moines bis El Paso. „Wir kämpfen um unser Recht zu atmen, zu leben, zu existieren, darum, dass es uns gut geht. Unsere Menschenrechte werden verletzt, denn uns wird verwehrt, ein Mensch zu sein. Um das zu überwinden brauchen wir die Mithilfe von allen. Das kann nicht nur von denen erreicht werden, die in diesem Land durch die rassistische Tyrannei unterdrückt werden.“

Er wie viele andere hofft auf die anhaltende Kraft der Proteste. 2020 ist ein wichtiges und vielbeachtetes Wahljahr. Mit einer Abwahl von Donald Trump könnte ein wichtiges Zeichen gesetzt werden, denn der Präsident befeuert immer wieder mit seinen Äußerungen einen rassistischen Unterton in der Gesellschaft. Doch damit, so Jamal Smith, wäre nur ein Anfang in einer langen, drängenden und auch schmerzvollen Debatte in den USA erreicht.