Die Abenddämmerung von Kulturen und deren Lebenskrisen waren eines der zentralen Themen des Kulturhistorikers Jacob Burckhardt. Verdämmert unsere westliche Kultur inzwischen im Brandschein von Plünderungen?
Solche Krisen führen jedoch keineswegs notwendig zu neuem Aufstieg und besseren Verhältnissen. Burckhardt schreibt: „Was die Anfangsphysiognomie der Krisen betrifft, so tritt zunächst die negative, anklagende Seite zutage, der angesammelte Protest gegen das Vergangene, vermischt mit Schreckensbildern vor noch größerem, unbekanntem Druck.“ Deren Überschätzung kann dann „den Ausbruch, d.h. die Störung der öffentlichen Ordnung in ihrer bisherigen Form“ zur Folge haben. „Die um einer Sache willen beginnende Krise hat den übermächtigen Fahrwind vieler anderen Sachen mit sich, wobei in betreff derjenigen Kraft, welche definitiv das Feld behaupten wird, bei allen einzelnen Teilnehmern völlige Blindheit herrscht. Die einzelnen und die Massen schreiben überhaupt alles, was sie drückt, dem bisherigen Zustand auf die Rechnung […]. Endlich machen alle mit, welche irgend etwas anders haben wollen, als es bisher gewesen ist. Und für den ganzen bisherigen Zustand werden durchaus dessen dermalige Träger verantwortlich gemacht, schon weil man nicht nur ändern, sondern Rache üben will und den Toten nicht mehr beikommen kann.“
Heute wird in Ländern des Westens versucht, alles gleichzeitig zu tun: sowohl die aktuellen Träger von Macht zu verunglimpfen als auch Rache zu üben, indem nicht nur Polizisten zu Unpersonen erklärt, sondern Denkmäler von Personen demoliert oder vom Sockel gestoßen werden, die man für „Rassisten“ hält. Inzwischen hat dies auch George Washington getroffen, ohne den es die Vereinigten Staaten von Amerika nicht gäbe, und in London wurde Vergleichbares gegen Winston Churchill versucht, ohne den Hitler womöglich im Zweiten Weltkrieg gesiegt hätte. Differenzierung und historische Sachkenntnis sind dabei eines Lynchmobs Sache nicht; er rottet sich zusammen, um mit Vorschlaghämmern und Seilen jenen Toten beizukommen, die von früheren Generationen einst auf Sockel gestellt wurde.
Aktueller Anlass war die Ermordung des Afroamerikaners George Floyd, der am 25. Mai 2020 in der USA-Großstadt Minneapolis bei einem brutalen Polizeieinsatz getötet wurde. Dem folgten massenhafte Demonstrationen, teils friedlich, teils gewalttätig, Plünderungen und Brandstiftungen. Ernsthafte Beobachter betonten, dass die alltägliche Polizeigewalt gegen Schwarze in den USA der Auslöser war, nicht aber der eigentliche Grund für die Ausschreitungen. Den reichsten zehn Prozent der Bevölkerung in den USA gehörten 1933 47 Prozent des nationalen Wohlstands. Dann kamen Roosevelts New Deal und der Fordismus, so dass es 1970 nur noch 34 Prozent waren. Im Ergebnis des Neoliberalismus gehören den Reichen heute wieder 50 Prozent aller Vermögen. Der Unterschied zu 1933 sei, so der bulgarische Autor Valeri Naydenov, dass die Klasse der Ideologen es diesmal geschafft habe, den Unmut über die soziale Ungleichheit in Rassenhass zu verwandeln. Die Militarisierung der Polizei und die Gefängnisindustrie der USA sind Institutionen des Neoliberalismus. Durch den Abbau der sozialen Netze rutschten immer mehr Menschen in die unteren, prekär lebenden Gesellschaftsschichten ab, und Aufgabe der staatlichen Vollzugsbehörden wurde die repressive Überwachung dieser Gesellschaftsschichten.
Zur Anfangsphysiognomie der gegenwärtigen Krise gehört, dass sich in Westeuropa ebenfalls Anti-Rassismus-Demonstrationen ausbreiteten. Auch in Deutschland, obwohl hier die sozialen Sicherungssysteme nicht so demoliert wurden wie in den USA oder Großbritannien. So schrieb die Journalistin Hengameh Yaghoobifarah in der taz eine Kolumne unter der Überschrift: „All cops are berufsunfähig“. Wenn die Polizei abgeschafft werde, gehörten die 250.000 deutschen Polizisten auf die Mülldeponie, weil sie als „Abfall“ anzusehen seien. Zwei Polizeigewerkschaften erstatteten daraufhin Anzeige gegen das Blatt. Marc Felix Serrao von der Neuen Zürcher Zeitung nannte die Kolumne „als Satire verbrämte Volksverhetzung“.
Eine Abschaffung der Polizei wäre zugleich die Aufgabe des staatlichen Gewaltmonopols und liefe auf die Erfüllung der zyklisch immer wieder auftauchenden anarchistischen Forderung nach Beseitigung des Staates hinaus. Dies würde jedoch nicht zu einer idyllischen Menschengemeinschaft führen, sondern zu einem Kampf jeder gegen jeden. Nur besonders Reiche, die sich bewaffnetes Schutzpersonal leisten können, würden noch sicher leben. Das wiederum wäre die Wiederherstellung mittelalterlicher Verhältnisse.
„Fuck the Police“ ist eine dystopische Vorstellung von Gesellschaft. Allerdings ändert das nichts daran, dass viele, vor allem jüngere Menschen dies für eine gute Idee halten: Man würde nicht mehr auf Drogen kontrolliert und könnte ungehindert mit 170 Stundenkilometern über den Kudamm rasen. Allerdings – es käme dann auch niemand zu Hilfe, wenn der eigene Vater ermordet oder die Partnerin vergewaltigt würde.
Nun haben einige Entwicklungen solch eine Anti-Polizei-Haltung befördert. Herkommend noch von der 68er-Ablehnung jeglicher Autorität wurde die Fridays for Future-Bewegung in Medien hauptsächlich so begleitet, als hätten die Alten und die Institutionen stets völlig verantwortungslos gehandelt und die Jungen täten recht, die Schule zu schwänzen und sich nicht mehr an Regeln zu halten. Schließlich gehe es um das Klima und die Rettung der Welt. Dann wurden die Black Lives Matter-Demonstrationen in den USA hierzulande nachgespielt, erst als friedliche Demo, dann als Randale in Neukölln, zunächst als Unterstützung der Bewegung in den USA, dann als Bekundung „gegen Rassismus“ in Deutschland.
In der Nacht vom 20. zum 21. Juni fand eine große Randale in der Stuttgarter Innenstadt statt. Es wurde Fensterscheiben eingeschlagen, Läden demoliert und geplündert, Polizisten angegriffen. Beteiligt waren etwa 400 bis 500 junge Männer, unmittelbar festgenommen wurden 24 Personen, davon zwölf Ausländer und zwölf Deutsche, darunter drei mit „Migrationshintergrund“. Die Behörden und die Polizei meinten, es habe weder einen linken politischen noch einen migrantischen Hintergrund gegeben. Versuche besonders „linker“ Schreiber, die Stuttgarter Ereignisse in antirassistische oder Sozialproteste umzudefinieren, erweisen sich als blanker Unsinn. Der Stuttgarter Polizeipräsident bezeichnete die Randalierer als Mitglieder einer „Party- und Eventszene“. Das seien Leute, die sich seit Wochen immer wieder in der Öffentlichkeit träfen – Klubs und Eventorte waren wegen Corona noch zu – und sich betränken. Hinzu käme, dass sie sich in den „sozialen Medien“ mit ihrem Tun inszenierten, sich mit einem besonders aggressiven und beleidigenden Treiben gegen Polizeibeamte brüsten wollten.
Burckhardt nennt es ein „physiologisches Faktum“, „dass in jeder Krise eine bestimmte Quote von fähigen, entschlossenen und eiskalten Menschen mitschwimmt, welche mit der Krise nur Geschäfte machen und vorwärts kommen wollen“. „Diese Art der Haltefest, Raubebald und Eilebeute schwimmt um jeden Preis oben, und um soviel sicherer, da kein höheres Streben sie irre macht. Dieser oder jener von ihnen wird freilich erwischt und geht unter, allein die Sorte als solche ist ewig, während die primären, anführenden Tendenzmenschen zählbar sind und von den sich steigernden Krisen verzehrt werden. Auf Erden ist das Unsterbliche die Gemeinheit.“
Raubebald und Eilebeute sind Übersetzungen von Namen aus dem Alten Testament ins Lutherdeutsch. Moderner wird das so übertragen: „Eile zur Beute! Eilt zum Raub!“
Die Täter sind unter uns. Nicht nur rechtsextreme und islamistische Mordbuben und linksextremistische Brandstifter, auch verwöhnte Kleinbürgerkinder aus Langeweile sowie Plünderer aus Habgier, die sich als Mob zu Randale, Raub und Zerstörung zusammenrotten. Manchmal in Stuttgart, öfter in Kreuzberg und weiteren Teilen von Berlin. Anderswo kommen sie noch.