23. Jahrgang | Nummer 15 | 20. Juli 2020

„Die Mitschuldigen“ auf dem Lande 

von Renate Hoffmann 

Sommertage, Krisentage. Trotz alledem – Kulturtage. Nach Großkochberg. Beschauliches Dorf im Thüringischen. Abseits vom Großstadttrubel, nahe Rudolstadt und dem etwa 28 Kilometer entfernten Klassiker-Zentrum Weimar. Goethe eilte des Öfteren in die ländlich, arkadisch anmutende Gegend. Den Weg dorthin wollte er in vier Stunden zurückgelegt haben (erhebliche Zweifel). Ziel der Wünsche war der Landsitz seiner Freundin Charlotte von Stein.

Das Schloss, weithin sichtbar durch das blendende Weiß und die roten Fensterumrandungen, ein romantischer Park und das Liebhabertheater. Sie bilden eine Dreieinigkeit aus Historie, Kunst und Natur, die ihre Besucher seit vielen Jahren verwöhnt und mit diesem Zusammenspiel erfreut.

Aus einem ehemaligen barocken Gartenhaus wurde nach Plänen von Carl von Stein, Charlottes ältestem Sohn, ein kleines Theater im klassizistischen Stil. Nunmehr das „Liebhabertheater Schloss Kochberg an der Klassik Stiftung Weimar.“ Eine Kostbarkeit mit intimem Charakter. – Jeden Sommer enthält der Spielplan Schauspiel, Lesung, Konzert und Kammeroper. Bevorzugt sind die Werke aus Barock, Klassik und Romantik. Wo hätte der Aufführungsort für Goethes Lustspiel „Die Mitschuldigen“ angemessener sein können als hier?

Die derzeitigen Umstände erforderten eine besondere Regie, und das führte zu einem Erlebnis besonderer Art. Die Vorstellung fand im Freien statt. Das Schloss im Blick, den Park um sich, und das Spiel in der Eingangshalle des Theaters vor sich.

Das Stück schrieb J.W.G., der kaum Neunzehnjährige, im Winter 1768/69 in Frankfurt. Nach einem erlittenen Blutsturz verließ er den Studienort Leipzig und kehrte ins Elternhaus zurück. In den Monaten der Rekonvaleszenz überarbeitete der Unruhegeist Goethe „Die Mitschuldigen in einem Akte“, und es entstand die Zweitfassung. Sie ist dichter im Aufbau, klarer in der Personenzeichnung und treffender im Text. Heißt es in der Erstfassung noch (Söller zu Alcest): „Die Herren Ihresgleichen, / Die schneiden meist für sich das ganze Kornfeld um / Und lassen dann dem Mann das Spizilegium.“ So wird in der Zweitfassung, die auch der Kochberger Aufführung zugrunde liegt, die Sprache deutlicher: „Allein, ihr großen Herrn, ihr habt wohl immer recht! / Ihr wollt mit unserm Gut nur nach Belieben schalten; / ihr haltet kein Gesetz, und andre sollens halten?“ (Zustimmendes Geraune im Publikum)

Ort der Handlung: Das Wirtshaus Zum Schwarzen Bären. Handelnde Personen: Der Wirt, von Neugier und Klatschsucht besessen; Sophie, seine Tochter; Söller, ihr Ehemann, ein Spieler und Taugenichts; Alcest, begüterter, verflossener Liebhaber Sophiens. – Das Spiel beginnt. Es bedient die theaterwirksamen Motive und Emotionen: Liebe, Eifersucht, Verleumdung, Dieberei; Zorn, Sehnsucht, Enttäuschung und Misstrauen. In der historischen Aufführungspraxis der Goethezeit angelegt und vom Flair einer Commdia dell‘ arte umgeben, schaut man mit Vergnügen dem Treiben zu. Respektiert die wohltemperierte Sprache der Schauspieler, und bewundert ihre Beweglichkeit, mit der sie die Architektur der ungewöhnlichen Spielstätte für den Handlungsablauf nutzen.

Folgendes trägt sich zu: Der feine Herr Alcest nimmt Quartier im Wirtshaus, um sich der vor Zeiten geliebten Sophie wieder zu nähern. Sie ist inzwischen mit dem Nichtsnutz Söller die Ehe eingegangen, tief unglücklich und die Sehnsucht nach Alcest ungebrochen im Herzen. Der Wirt giert nach einem Brief von Alcest, in dem er eine hochbrisante Nachricht vermutet, die Neugier treibt ihn um. Söller, von Spielschulden gejagt, stiehlt aus Alcestens Schatulle achtzig Taler. Des Nachts befinden sich alle Beteiligten mit unterschiedlichen Absichten im Zimmer von Alcest; nacheinander, unentdeckt nebeneinander. Der Diebstahl kommt ans Licht. Wer war der Täter? Vorwürfe, gegenseitige Beschuldigungen, heftige Auseinandersetzungen. Söller, in die Enge getrieben, bekennt. Die Kardinalfrage: Ist er der Alleinschuldige? Goethe weist jedem eine Mitschuld zu. Auch Alcesten. Söller: „Ich stahl dem Herrn sein Geld, und er mir meine Frau.“ – Ende gut – (fast) alles gut. Versöhnung auf dünnem Eis.

Es ist nicht nur ein Lustspiel, es ist ebenso die unbändige Lust der Akteure am Spiel, mit der sie von Szene zu Szene wirbeln, ihren Gefühlen freien Lauf lassen und letztendlich widerspiegeln, dass sich am menschlichen Verhalten bislang nicht viel geändert hat. –

Der langanhaltende Beifall des begeisterten Publikums galt: Lisa Altenpohl (Sophie), Gerda Müller (Alcest), Harald Arnold (Wirt), Andreas Schmitz (Söller). Regie führte Nils Niemann; die Kostüme, angelehnt an Bildwerke von Daniel Chodowiecki, fertigte Tamiko Yamashita-Gegusch; die Ausstattung übernahmen Nils Niemann und Silke Gablenz-Kolakovic. Produktion: Silke Gablenz-Kolakovic.

Niemand hastete nun zur Garderobe wie andernorts, sondern suchte zum Ausklang des heiter- ironischen Spiels den Park auf, um zu wandeln. Hier geht man nicht, man wandelt und genießt den stillen Sommerabend.