23. Jahrgang | Nummer 13 | 22. Juni 2020

Wer leiht sein Geld dem Staat durch Minuszinsen?

von Jürgen Leibiger

Der 6. Mai war ein erfolgreicher Tag im Geschäftsleben der Bundesfinanzagentur. Sie emittierte eine neue 15-jährige Bundesanleihe in Höhe von 7,4 Milliarden Euro. Innerhalb von nur zweieinhalb Stunden war das Order-Buch mehr als gefüllt. Die Nachfrage der insgesamt 225 Investoren (35% Asset Manager, 26% Banken, 18% Hedge-Fonds, 9% ausländische Zentralbanken und 12% Versicherungen und Pensionsfonds) betrug fast das Fünffache (sic!) des Emissionsvolumens; die negative Rendite von – 0,3 Prozent schreckte sie nicht ab. Und so geht das seit Jahren. Die Kaufwünsche für öffentliche Schuldpapiere übersteigen das Emissionsvolumen bei weitem; die Renditen sinken kontinuierlich und sind seit 2015 durchweg negativ, das heißt die Gläubiger zahlen dem Staat etwas dafür, dass er sich von ihnen Geld leiht. Es ist ein Riesengeschäft für die öffentliche Hand, die nicht nur Zinszahlungen einspart, sondern Geld dafür bekommt, dass sie Kredite aufnimmt.

Wollen die Käufer dieser Anleihen dem Staat Gutes tun, indem sie freiwillig auf Zinsen verzichten und noch etwas drauflegen? Liegt ihrem Verhalten eine Fehlkalkulation zugrunde oder werden sie gar gezwungen, solche Anleihen zu kaufen? Nichts von alledem. Für die Zinshöhe sind im Allgemeinen nicht nur die wirtschaftliche Ertragslage, die Inflationserwartungen, die Laufzeit von Krediten und Anleihen und deren Wiederverkaufschancen von Bedeutung, ein wichtiger Faktor ist das Risiko. Je riskanter eine Anlage eingeschätzt wird, desto höher fallen die Zinsforderungen aus. Wer über ausreichend Liquidität verfügt, setzt bei der Geldanlage nicht alles auf eine Karte. Neben hochrentierlichen Anlagen mit zumeist hohen Risiken werden auch Werte ins Portefeuille genommen, die zwar niedrig verzinst, dafür aber sicher sind. In einer Zeit mit wegen der Überakkumulation von Geldkapital sehr niedrigen Zinsen wird deshalb das Geld zur Absicherung hochriskanter Geschäfte auch in negativ verzinste, dafür aber idiotensichere Staatsanleihen gesteckt. Sie dienen der Absicherung des Vermögensportefeuilles, auf dessen Gesamtverwertung es ankommt. Je höher die allgemeine Unsicherheit, das Risiko von Finanzkrisen und die Angst vor großen Vermögensverlusten, umso eher parken die Anleger einen Teil ihres Geldes beim Staat, auch wenn sie das etwas kostet. Trotz der im Vergleich zu Deutschland mehrfach höheren Rendite griechischer oder italienischer Anleihen flüchtete das Kapital dieser Länder 2012/2013 in extrem niedrig verzinste, aber sichere deutsche Staatsanleihen. Die oben erwähnte Bundesanleihe wurde zu 42 Prozent von britischen und je 8 Prozent von italienischen und französischen Anlegern gekauft; deutsche waren nur zu 21 Prozent beteiligt. Je größer das Engagement in solch todsicheren Anlagen ist, umso größere Risiken können an anderer Stelle eingegangen werden. Mögliche Verluste werden auf diese Weise gering gehalten und es geht nie das ganze Vermögen verloren. Außerdem können sich Kapitalunternehmen an anderer Stelle, zum Beispiel gegenüber Lohnabhängigen, oder in Steueroasen schadlos halten. Mehr noch: Wer jemandem Geld auf normalem Wege leiht, gibt die Verfügung darüber zeitweilig auf; wer das Geld jedoch in Form des Anleihekaufs verleiht, erhält dafür ein Wertpapier, das so gut wie Geld ist. Es muss nicht im Tresor liegen bleiben, um am Tag der Fälligkeit eingelöst zu werden. Banken können es der Zentralbank gegen Bargeld geben, man kann es weiterverkaufen oder es als Sicherheit für kreditfinanzierte, profitablere Geschäfte verwenden. Wer im Mai einen kurzfristigen Kredit aufgenommen hat – der Zins für Monatsgeld ist negativ und gleicht die negative Rendite der Anleihe ungefähr aus – und sich Dax-Werte kaufte, die er vier Wochen später verkauft, um den Kredit zurückzuzahlen, hat entsprechend der Dax-Steigerung in diesen vier Wochen einen satten Gewinn von 13 Prozent eingestrichen. Was also wie ein Geldverleih aussieht, ist in Wirklichkeit nur eine Formänderung des Geldkapitals. Volkswirtschaftlich hat sich das Bruttovermögen erhöht, wenn der Staat frisch „gedruckte“ Anleihepapiere (heutzutage in digitaler Form) verkauft. Er verfügt jetzt über das Geld und der Gläubiger verfügt anstelle des Geldes über das Wertpapier. Letzteres ist also „fiktives“ Kapital, es ist in den Händen der Gläubiger nichtsdestotrotz Kapital, sich verwertender Wert. Was der Staat mit dem Geld macht, ist ihnen egal. Der kann damit Gehälter oder Kindergeld bezahlen, Schulen oder Brücken bauen, US-Konzernen Militärflugzeuge abkaufen, Lufthansa vor dem Ruin retten oder ältere Schulden zurückzahlen. Sobald die Anleihe bei Fälligkeit getilgt wird, bekommt er das Papier zurück und der Vermögenswert landet im Schredder. Mit der 15-jährigen Bundesanleihe passiert das 2035; der Bund nimmt die Tilgung dann aus Steuereinnahmen vor oder begibt neue Anleihen, wahrscheinlich letzteres. Streng genommen könnte er sie auch streichen.

Wer sind die Gläubiger des Staates? Zwar sind die Bieter der Auktionen der Bundesfinanzagentur bekannt, sobald die Anleihen aber in den Sekundärhandel gehen, verliert sich zumeist ihre Spur bis zur Fälligkeit der Papiere. Die Bundesbank veröffentlicht nur eine sehr grobe Übersicht. Die Gläubiger der über 2 Billionen Euro an öffentlichen Schulden sind zu einem Drittel inländische Finanzunternehmen, zu knapp 18 Prozent die Bundesbank, gerademal zwei Prozent andere Unternehmen und Privatpersonen im Inland und zu etwas weniger als die Hälfte ausländische Anleger. Insgesamt scheint es also, dass Privatpersonen nur in geringem Maße zu den Staatsgläubigern zu gehören. Aber machen wir uns nichts vor: Hinter fast all den Investoren stehen letztlich private Eigentümer, was sich in Form von Anteilsrechten im Vermögen der reichsten Privathaushalte zeigt. Diese, das oberste Zehntel der Bevölkerung, das über zwei Drittel aller Vermögen verfügt sind die Gläubiger des Staates. Der Kauf von Staatsanleihen trägt dazu bei, die Verwertung ihres Geldkapitals zu perpetuieren und die Schere in der Verteilung der Vermögen aufrechtzuerhalten.

Staatsschulden sind kein Teufelszeug! Mit Recht kritisieren progressive Ökonomen seit langem die sogenannte Schuldenbremse und den Austeritätskurs der Regierung. Wenn nicht nur die privaten Haushalte sparen, sondern auch die Unternehmen zu wenig investieren und deshalb Finanzierungsüberschüsse aufhäufen, kollabieren Wirtschaft und Beschäftigung nur dann nicht, wenn entweder mehr exportiert als importiert wird und/oder wenn der Staat mehr ausgibt und nachfragt, als er einnimmt, sich also verschuldet. Geschieht letzteres nicht in ausreichendem Maße, muss ein Leistungsbilanzüberschuss existieren, das heißt, eine Verschuldung des Auslands. Die Ungleichgewichte innerhalb der Europäischen Währungsunion und die Verschuldung der „Südländer“ sind also nur ein unvermeidliches Gegenstück des deutschen Sparwahns. Also kein Teufelszeug! Aber natürlich auch keine Allzweckwaffe. Es fragt sich nämlich, warum der Staat das wirtschaftliche Gleichgewicht nur mittels seiner Verschuldung bei den Reichen des Landes herstellen soll und nicht mittels des Instruments seiner Steuerhoheit. Läge nicht das Eindämmen des privaten Sparens, der unverhältnismäßigen Geldvermögensbildung der Privatwirtschaft und der oberen Zehntausend, viel näher? Die Sparquote des reichsten Zehntels der Haushalte ist um das Mehrfache höher als die durchschnittlichen 10 Prozent. Diese übermäßige Geldvermögensbildung könnte vermindert werden, wenn die sehr hohen Einkommen und die Vermögen deutlich stärker besteuert würden. In so extremen Krisenzeiten wie heute hätte sogar eine außerordentliche Vermögensabgabe ihre Berechtigung. Das gilt auch für die Finanzierungsüberschüsse der Privatwirtschaft, die vor allem infolge der Absenkung der Unternehmenssteuern und der im Vergleich zur Produktivitätsentwicklung zu geringen Lohnsteigerung bei niedrigeren Investitionsausgaben entstanden sind. Für diese Überschüsse wird händeringend nach profitablen Anlagen gesucht. Dieser Prozess begann um 1980 herum, zeitgleich mit dem erneuten Anwachsen der Staatsverschuldung. Die vorherigen Jahrzehnte waren seit 1950 durch niedrigere Staatsverschuldung, höhere Steuern, eine geringere Einkommens- und Vermögensungleichheit und ein weit höheres Wachstum gekennzeichnet. Der Schwenk wurde nicht etwa durch „linke“ Schuldenpolitik, sondern die Durchsetzung der profitorientierten, neoliberalen Agenda bewirkt. Ein Kollateralschaden gewissermaßen, der freilich als willkommene Begründung für die Beschränkung staatlicher Ausgaben missbraucht wurde.

In einer Krise wie der gegenwärtigen scheint es angesichts der existierenden steuerpolitischen Gegebenheiten kurzfristig keine Alternative zu kreditfinanzierten Ausgabenprogrammen des Staates zu geben. Aber Staatsschulden sind weder Teufelszeug noch Wunderwaffe! Letztlich sind es profit- und machtpolitische Gegebenheiten und Kräfteverhältnisse, die statt einer Vermögensabgabe und -besteuerung eine kreditfinanzierte Ausgabenerhöhung als opportun und politisch bequem erscheinen lassen. Geld ist jedenfalls genug da; trotz niedrigster Zinsen stiegen die privaten Geldvermögen im Vorjahr um rund 300 Milliarden auf über 6,3 Billionen Euro. Verständlich, dass die reichsten zehn Prozent, denen davon der Löwenanteil gehört, ihr Geld dem Staat lieber leihen als es in Form von Steuern zu überweisen.