Als nasskalter, nicht untypischer Wintertag präsentierte sich der 9. Dezember vergangenes Jahr im niederländischen Volkel. Um kurz nach drei Uhr nachmittags durchbrach ein grauer Riese die gleichfarbige Wolkendecke über dem Fliegerhorst. Ein riesiges Transportflugzeug vom Typ Boeing C-17A Globemaster III schwebte ein. Die Maschine mit der Registriernummer 10-220 und der Aufschrift „McChord“ auf dem Heckleitwerk wurde 2017 feierlich auf den Namen „Spirit of Joint Base Lewis McChord“, oder kurz die „Spirit of JBLM“ getauft.
Dieses Flugzeug gehört zu einer besonderen Einheit. Zum 62. Lufttransportgeschwader des US Air Mobility Commands mit der Heimatbasis Lewis McChord gehören die Piloten der Prime Nuclear Airlift Force, PNAF. Es ist die einzige Nuklearwaffen-Transporteinheit der US-Luftwaffe. Diese Aufgabe hat im Geschwader die 4. Staffel. Sie ist dafür zuständig, besonders gefährliche oder gefährdete Fracht zu bewegen. Nuklearwaffen zum Beispiel oder den US-Präsidenten, wenn dieser nicht problemlos mit seiner Air Force One einschweben kann.
Auch in Volkel erfüllt die „Spirit of JBLM“ an diesem Tag einen speziellen Auftrag. Sie soll die Niederlande für knapp zwei Tage zu einem atomwaffenfreien Land machen. Es geht um einen Austausch der US-Atomwaffen, die in den Niederlanden gelagert sind. Gegen neugierige Blicke geschützt, versteckt hinter einer massiven Sichtblende aus geparkten LKWs und aus der Luft noch von Kampfhubschraubern des Typs AH-64 Apache überwacht, wird das Transportflugzeug in den nächsten Stunden mit den 10 bis 20 US-Atomwaffen vom Typ B61-3 und B61-4 beladen, die bis dahin in Volkel lagerten. Es soll sie in die USA bringen. Rund 24 Stunden später hebt der graue Riese wieder ab. Ziel ist jetzt die Luftwaffenbasis Kirtland AFB im Süden von Albuquerque in New Mexico, rund neuneinhalb Flugstunden und mehr als 8.000 Kilometer entfernt. Dort befindet sich das größte unterirdische Atomwaffenlager der US-Luftwaffe mit einer eigenen Nuklearwaffenwartungsanlage, der sogenannte Kirtland Underground Munitions Maintenance and Storage Complex (KUMMSC). Quasi gleich um die Ecke liegt eine Vielzahl weiterer Nukleareinrichtungen: Das Sandia National Laboratory, die Defense Nuclear Weapons School und das Air Force Nuclear Weapons Center. Auch Los Alamos, der Geburtsort der Atomwaffe, ist nicht weit. Selbst zur Montagefabrik für die Nuklearwaffen der USA, dem Pantex-Werk in Texas, sind es nur etwa 400 Kilometer. Für amerikanische Verhältnisse ein Katzensprung.
In Albuquerque bleibt die „Spirit of JBLM“ auch nicht lange am Boden. Schon am späten Vormittag des 12. Dezembers landet sie wieder in Volkel. Sie bringt jetzt andere Atomwaffen der gleichen B61-Typen mit. Ob in gleicher Anzahl ist unbekannt. Dieses Mal wird das Flugzeug nur rasch entladen. Schon nach rund vier Stunden Aufenthalt hebt die C-17 wieder ab und fliegt nach Ramstein. Die Crew hat sich eine Pause verdient. Ihre gefährliche und geheime Mission ist erfüllt. Bei allen Flügen lautete das Rufzeichen der Maschine RCH276. Die sechsstellige Mode-S-Kennung lautete AE4F14.
Volkel ist nicht der einzige Standort in Europa, an dem die USA dieser Tage ihre Atomwaffen austauschen. Im deutschen Büchel war es im Spätsommer letzten Jahres der Fall. Und im türkischen Incirlik wahrscheinlich in der zweiten Märzhälfte 2020. Am Austauch der Bomben in Incirlik war möglicherweise eine C-17A mit der Registriernummer 10-217 beteiligt, die von der Kirtland Air Force Base in die Türkei flog. Auch sie gehört zum 62. Lufttransportgeschwader und kann von Piloten der PNAF genutzt werden. Internetseiten aus der Türkei, Deutschland und den Niederlanden berichteten damals irrigerweise und effekthascherisch, die USA hätten ihre Nuklearwaffen aus der Türkei abgezogen und nach Polen und ins Baltikum verlegt. Filmaufnahmen sollten das belegen. Die C-17, die darin zu sehen waren, gehörten alle nicht einmal zum 62. Geschwader. Eine glatte Falschinformation also.
Atomwaffentransporte über den Atlantik werden nur unternommen, wenn das unbedingt nötig ist. Selbst Wartungsarbeiten zum Austausch begrenzt haltbarer Komponenten werden normalerweise in Europa durchgeführt. Dafür verfügen die europäischen US-Wach- und Wartungseinheiten über spezielle LKWs. Meist liegen die Bomben jedoch für Monate oder Jahre unberührt in ihren unterirdischen Stahlmagazinen, sogenannten Grüften oder Vaults, die tief in den Fußboden der Flugzeugshelter auf den Flugplätzen in Europa eingebaut wurden. Deren 30 Zentimeter dicker Metalldeckel darf auch durch die US-Soldaten nur geöffnet werden, wenn ein besonderer Befehl vorliegt oder die automatischen Überwachungssensoren ein schwerwiegendes technisches Problem mit einer Waffe signalisieren. Keine vermeidbaren Risiken, so lautet die Vorgabe für eine möglichst sichere Verwahrung. Für das Training und die Ausbildung gibt es deshalb nicht explosionsfähige baugleiche Übungsbomben, mit denen an einer separaten Gruft wie mit den echten Waffen trainiert werden kann.
Warum dann aber ein Austausch der bisher in Europa gelagerten Waffen durch andere aus den USA, der gleich zwei Transatlantikflüge und das Überfliegen großer Teile der USA mit den Waffen an Bord erfordert? Und das nur wenige Jahre, bevor die Bomben in Europa sowieso durch Waffen einer neuen Generation abgelöst werden sollen? In ein oder zwei Jahren soll die Serienfertigung einer neuen Version der B61 beginnen. Die B61-12 wird eine deutlich leistungsfähigere und zielgenauere nukleare Lenkwaffe sein.
Die Antwort findet sich wohl in einem mehr als zehn Jahre alten Planungsdokument der für Entwicklung, Bau und technische Betreuung der US-Atomwaffen zuständigen National Nuclear Security Agency. Dort war schon damals zu lesen, dass die in Europa gelagerten Bomben B61-3 und -4 ab 2019/20 überarbeitete Nutzungskontroll- und Nutzungsverweigerungssysteme, erhalten sollten, mit deren Entwicklung man 2014 beginnen wollte.
Unter diesem Sammelbegriff werden unterschiedliche technische Komponenten und Vorrichtungen, verstanden, die alle ein und demselben Zweck dienen: Sie sollen garantieren, dass die Atomwaffen der USA nur dann zur Explosion gebracht werden können, wenn sie gegen ein Ziel eingesetzt werden, für das sie der US-Präsident freigegeben hat. In allen anderen Fällen, und auch, wenn sich irgendjemand, zum Beispiel ein zugangsberechtigter US-Soldat, der Alkohol oder Drogen zugesprochen hat, unautorisiert an einer Bombe zu schaffen macht oder versucht, diese technisch zu manipulieren, soll die Waffe sich selbst unbrauchbar machen. Dann kann sie nur noch in den USA wieder funktionsfähig gemacht werden.
Verbesserungen dieser technischen Sicherheitsvorrichtungen erfordern oft so tiefe Eingriffe in das technische Innenleben der Bomben, dass sie nur in den USA umgesetzt werden können. So war es auch schon in dem alten Planungsdokument nachzulesen. Dafür müssen sie zur Kirtland Air Force Base gebracht werden.
Das verbesserte Nutzungskontroll- und -verweigerungssystem zu entwickeln war Aufgabe der Sandia National Laboratories in Albuquerque, die direkt an die Air Base angrenzen. Dort wurde seit 2014 das Konzept einer sogenannten intrinsic use control umgesetzt. Im vergangenen Jahr war wohl eine ausreichende Zahl älterer B61-Bomben aus dem Depot der Kirtland Air Force Base damit ausgestattet, um sukzessive die ersten Stützpunkte in Europa damit zu beliefern.
Schon seit vielen Jahrzehnten legen die USA gesteigerten Wert darauf, dass die Atomwaffen, die außerhalb des eigenen Landes lagern, immer die besten und modernsten verfügbaren Sicherheitssysteme besitzen. Es waren zum Beispiel die Atomwaffen in Europa, die auf Initiative des früheren US-Verteidigungsministers Robert S. McNamara als erste ein sogenanntes PAL-System, ein Permissive Action Link, erhielten. Auch nach dem Kalten Krieg verfügten die Atomwaffen in Europa über die modernste, damals verfügbare Variante, ein PAL der Kategorie F. Der Code für diese Version erforderte eine 12-stellige Eingabe, die spätestens beim dritten Versuch korrekt sein musste.
„Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser!“ – Das gilt aus der Sicht Washingtons offenbar auch im Blick auf die europäischen Bündnispartner in der NATO und natürlich besonders für die Staaten, die sich an der Nuklearen Teilhabe beteiligen.
Schlagwörter: Atomwaffen, intrinsic use control, Otfried Nassauer, USA