23. Jahrgang | Nummer 12 | 8. Juni 2020

Neues Zwielicht auf den „Stellvertreter“?

von Herbert Bertsch

„Wer nicht völlig verblendet oder gänzlich unerfahren war, konnte nicht ganz frei sein von dem drückenden Bewusstsein, dass dieser Krieg kein gerechter Krieg war.“

Bundespräsident Heinrich Lübke 1960

Die ganze Welt hofft hier auf Antworten“, titelte wortgewaltig die Süddeutsche Zeitung am 17. Februar, und weiter: „Pius XII. war Papst, als die Nationalsozialisten sechs Millionen Juden ermordeten und als der Zweite Weltkrieg begann und endete. Er starb im Oktober 1958. Sein Pontifikat gibt Historikern und Theologen bis heute viele Rätsel auf. Im März wird der Vatikan in seinen Archiven alle Akten aus Pius’ Amtszeit zugänglich machen.“ Aus dem Termin wurde virusbedingt nichts, aber immerhin war und ist dies Anlass zum Thema. Zudem – wie der Zufall will –, am 13. Mai starb Rolf Hochhuth, dessen Werk „Der Stellvertreter“ am 20. Februar 1963 in der Freien Volksbühne Berlin unter Bombendrohung für das Haus und Todesdrohung für den Autor uraufgeführt wurde. Der Autor fragte und tut dies durch sein Werk auch weiterhin: Warum schwieg der Stellvertreter, als zu reden hohe Zeit war?

In Vorschau auf die Archivöffnung hatte die Süddeutsche den Kirchenhistoriker Wolf, der schon an der Vorbereitung der Archivöffnung beteiligt war, danach befragt, was, neben Aufklärung zu der weltweiten Hauptfrage hinsichtlich des Verhaltens zum Mord an den Juden, weiter zu erwarten sei? Da verwies er auch auf dies als ein Beispiel: „Wir wissen aus dem CIA-Archiv, dass beim Ausspionieren italienischer Kommunisten Mitarbeiter der Kurie mit dem amerikanischen Geheimdienst kooperiert haben. Vielleicht ist die Furcht Pius’ XII. vor dem Kommunismus sogar so etwas wie der rote Faden des ganzen Pontifikats?“ Diese Vermutung dürfte der Generalschlüssel zu vielem sein, was von Pius XII. und seinem Vorgänger Pius XI. getan und unterlassen wurde.

Am 23. August 1945 veröffentlichte die Deutsche Bischofskonferenz ein Hirtenwort. Das beginnt mit dem „Dank an unseren Klerus und unsere Diözesanen für die unerschütterliche Treue, die sie der Kirche in schweren Zeiten gehalten haben“. Danach wurde auch den Laien Anerkennung zuteil: „Katholisches Volk, wir freuen uns, dass du dich in so weitem Ausmaße von dem Götzendienst der brutalen Macht freigehalten hast.“ Laut Volkszählung von 1939 gab es unter den 80 Millionen Staatsbürgern, einschließlich ehemals Österreicher, rund 32 Millionen Katholiken; ob deren Alltag, ihre Wahrnehmung und eigenes Verhalten mit dieser Ehrenerklärung zutreffend abgebildet wurde? Und wie beim belobigten Klerus?

Dazu eine Episode allererster Kategorie. Papst Pius XII., er war das erst eine Woche, hatte am 9. März 1939 vier deutsche Kardinäle aus gewichtigem Anlass zu Gast. Sie sollten Beihilfe bei der Anrede für Reichkanzler Adolf Hitler leisten, dem der Kirchenführer eine Grußadresse senden wollte. Es ging um „Hochzuverehrender“ oder „Hochzuehrender“. Mit dabei war der Wiener Kardinal Innitzer, der bei Hitlers Inbesitznahme von Österreich dessen einziger Gesprächspartner in Wien gewesen war und sich jetzt so revanchierte: „Am Tage der Volksabstimmung (10. April) ist es für uns Bischöfe selbstverständliche nationale Pflicht, uns als Deutsche zum Deutschen Reich zu bekennen, und wir erwarten auch von allen gläubigen Christen, dass sie wissen, was sie ihrem Volk schuldig sind.“ Seinem Klerus schrieb Innitzer zusätzlich, dass „der Kampf gegen die gefährliche Ketzerei des Bolschewismus […] offenbar ein Gegenstand des Segens göttlicher Vorsehung“ sei, wie Der Spiege 1967 dokumentierte.

Was bisher kaum bekannt war, ist die Existenz einer Gruppierung, die das Ziel der inhaltlichen Vereinigung von neuer Macht und katholischer Kirche vertrat und dafür Positionen der Kirche auch provokativ aufgab. Deren Wirken wird durch eine extensive Studie belegt, deren Titel den Gegenstand zutreffend beschreibt: „Zwischen Partei und Kirche – Nationalsozialistische Priester in Österreich und Deutschland (1938–1944)“*. Die Autorin Lucia Scherzberg, Professorin für Systematische Theologie an der Universität des Saarlands, fügt damit ihren Veröffentlichungen zum Verhältnis von Religion, institutionellen Kirchen und Nationalsozialismus eine sehr spezielle Forschungsarbeit hinzu, die in weiten Teilen und durch den umfangreichen Apparat auch viel über größere Zusammenhänge aussagt, so dass diese Aufarbeitung als eine eigenständige informative Quelle zu werten ist. 1938, nach der Übernahme Österreichs, trat die Bewegung demaskiert auf mit dem Anspruch, als Scharnier zwischen den nationalsozialistischen Machthabern und der katholischen Kirche zu wirken.

Es mussten 75 Jahre bis zum Mai 2020 ins mehrfach veränderte Land gehen, bis die gegenwärtige Generation der deutschen Bischöfe Anlass und Mut zu diesem Bekenntnis fand: „Bei aller inneren Distanz zum Nationalsozialismus und bisweilen sogar offener Gegnerschaft war die katholische Kirche in Deutschland Teil der Kriegsgesellschaft. […] Indem die Bischöfe dem Krieg kein eindeutiges Nein entgegenstellten, sondern die meisten von ihnen den Willen zum Durchhalten verstärkten, machten sie sich mitschuldig am Krieg.“ Dieser Aspekt – neben der Schuld, gegen den Mord an den Juden und anderen Opfergruppen nicht entschieden protestiert zu haben – bedarf besonderer Hervorhebung. Weder zu Zeiten von Pius XII. noch von ihm selbst gab es eine Verurteilung des Angriffskriegs, obgleich dies ständige Praxis Hitler-Deutschlands war, so auch, als es den Nichtangriffspakt mit der Sowjetunion brach. Alles widersprach zutiefst der Lehre vom gerechten Krieg und darauf aufbauenden Regeln.

Beginnend mit dem Sieg im „Polenfeldzug“ wurde es Usus,  bei ähnlicher Gelegenheit die Glocken sowohl katholischer als auch evangelischer Kirchen läuten zu lassen, häufig mit der Hakenkreuzfahne im Kirchenturm; von den Kanzeln wurde zunehmend der Segen „des Höchsten“ für die deutschen Waffen herbeigebetet. Pius XII. hatte es nicht einfach, als die Anti-Hitler-Koalition mit den USA und der Sowjetunion gegen seine Überzeugung zustande kam. Er stand dabei auch unter dem Verdikt der Enzyklika „Über den atheistischen Kommunismus“ seines Vorgängers Pius XI. vom 19. März 1937, an der er mitgewirkt hatte. Sie verbot jegliche Zusammenarbeit mit Personen und Institutionen kommunistischer Provenienz. Dies ging bis zur Geißelung eines vermuteten „Schweigekomplotts der Presse“: „Dieses Schweigen ist zum Teil politischer Kurzsichtigkeit zuzuschreiben und wird von verschiedenen geheimen Mächten (!) begünstigt, die schon lange darauf ausgehen, die christliche Sozialordnung zu zerstören.“

Vorbehalte und Gegnerschaft amerikanischer Bischöfe zu der ungeliebten politischen und militärischen Koalition waren damit begründet. Der Papst reagierte  mit einer Neuinterpretation, man müsse zwischen dem Volk und der Führung streng unterscheiden, verbunden mit einer Strategie, die er den amerikanischen Brüdern insgeheim zur Kenntnis gab: Hitler würde mit neuen Blitzsiegen die Sowjetunion bezwingen und danach möglicherweise auch seine inzwischen erklärte Absicht zur Ausschaltung des Christentums verwirklichen. Deshalb sollte man Stalin unterstützen, aber so dosiert, damit sowohl Hitler-Deutschland als auch die Sowjetunion sich im Abnutzungskrieg erschöpfen. Das wäre dann die günstige Ausgangsposition für einen Frieden, der der Kirche Freiheit zur weltweiten christlichen Gestaltung und für ihren Missionsauftrag bescheren wird.

Da war folgerichtig keine Neutralität gegenüber „beiden Seiten“ in der kriegerischen Auseinandersetzung, so dass – beispielhaft – der Paderborner Erzbischof Lorenz Jaeger keineswegs auf Kritik des Papstes stieß. Er bewertete die Sowjetunion als „Tummelplatz von Menschen, die durch ihre Gottlosigkeit und durch ihren Christenhaß fast zu Tieren entartet seien“, weil man die dortige Ordnung des menschlichen Lebens nicht auf Christus, sondern auf „Judas“ (!) aufgebaut habe. Auch der häufig ob seines verbalen Widerstandes als „Löwe von Münster“ gelobte Bischof von Galen begrüßte den kriegerischen „Kampf gegen den gottlosen Bolschewismus“. Pius erhob ihn zusammen mit Josef Frings und Konrad Graf von Preysing am 18. Februar 1946 in den Kardinalsstand. In Erinnerung bewertete Domradio am 18. Februar 2016 dies Ereignis als „Ehre den Besiegten“ und einen „frühen Akt der Rehabilitation innerhalb der Völkergemeinschaft“.

Die obigen Zitate stehen durchaus gleichwertig neben dem Konstrukt „jüdisch-bolschewistische Untermenschen“ als Stereotype im Sprachschatz von Goebbels mit Funktion als „Kriegsassistenz“. Deren Nutzung betrifft gewiss das Kirchenvolk, mehr noch das Wirken der Kirchen auf allen Ebenen und die nachträgliche, immer noch wechselnde Bewertung. Zur weiteren Aufhellung könnte die Freigabe der vatikanischen Bestände zum Pontifikat Pius’ XII. dienlich sein – auch wenn’s weh tut.

* – Lucia Scherzberg: Zwischen Partei und Kirche Nationalsozialistische Priester in Österreich und Deutschland (1938-1944). Campus Verlag, Frankfurt 2020, 645 Seiten, 49,00 Euro.