23. Jahrgang | Nummer 13 | 22. Juni 2020

Hans Küngs opus magnum

von Christoph Körner

Seit März 2015 erscheint im Herder Verlag eine auf 24 Bände angelegte Gesamtausgabe der Werke von Hans Küng, der wohl zu den herausragenden katholischen Theologen des 20. und begonnenen 21. Jahrhunderts gehört. Die einzelnen Bände sind nach inhaltlichen Gesichtspunkten zusammengefasst und jeweils mit einer kontextuellen Einführung des Autors versehen, wobei er ältere Texte aus seiner heutigen Sicht neu bewertet. Im Wesentlichen sind die Texte chronologisch angeordnet und zeigen zugleich die Entwicklung der verschiedenen Themen, mit denen sich Hans Küng beschäftigt hat und noch beschäftigt. Die Themen reichen von „Rechtfertigung“ (Band 1) bis „Weltpolitik und Weltwirtschaft“ (Band 20) und „Erinnerungen“ aus seinem Leben.

Im Spätherbst 2019 kam der genannte Band 20 heraus, der in vier inhaltliche Teile gegliedert ist: Ökonomie und Gottesfrage (1980), Die Schweiz ohne Orientierung?, Europäische Perspektiven (1992), Weltethos für Weltpolitik und Weltwirtschaft (1997 und 2010) und Weltethos und Recht.

Es ist unmöglich in dieser Rezension alle Beiträge des 580 Seiten umfassendes Werkes gebührlich zu würdigen. Ich will mich diesbezüglich auf den Teil drei konzentrieren und mich mit dem Werk „Weltethos für Politik und Weltwirtschaft“ beschäftigen, das er schon 1997 herausbrachte und das hier nachgedruckt wurde.

Es geht Hans Küng um die praktische Umsetzung des Projektes „Weltethos“, die er akribisch in seinem Buch „Anständig wirtschaften – Warum Ökonomie Moral braucht“ (2010) zu beschreiben versucht. Und obwohl alles richtig ist, was er sagt, hat man doch den Eindruck, dass er mit seiner Beschreibung an der Oberfläche der Probleme haften bleibt, weil er über ethische Allgemeinsätze nicht hinauskommt und keine tiefschürfenden gesellschaftlichen Analysen aufstellt. Er predigt und doziert, will selbst nicht in den Lauf der Welt eingreifen, sondern nur andere dazu ermahnen. Man hat stellenweise beim Lesen den Eindruck, dass er sich als Weltpolitiker ohne Mandat versteht. Er fordert zwar ethische Standards in der Weltwirtschaft, aber weist wenige konkrete Auswege auf. Da er auch ein Freund der Mächtigen (Politiker und Wirtschaftsbosse) ist und von ihnen zu Vorträgen und Gesellschaften eingeladen und geehrt wird, stellt sich die Vermutung ein, dass sein Buch vor allem ihnen gilt, die er auf die weiche Art (ohne sie zu verletzen) dazu bringen will, durch eine freiwillige (unverbindliche?) Selbstverpflichtung ein globales Wirtschaftsethos in die Praxis umzusetzen. Diese Hoffnung bleibt bei ihm im Ideellen stecken, was er auch zugibt, aber trotzdem an ihr unumstößlich festhält, weil ohne Ethos Politik und Wirtschaft keine lebenstaugliche Zukunft bringen sondern letzten endlich nur Krieg und Verderben.

Dies zeigt er am Beispiel des US-amerikanischen Politikers Henry Kissinger, mit dem er persönlich zusammentraf und ihn kritisierte, weil er eine Politik der Macht und nicht des Rechts praktizierte und somit alle Ethik außen vor ließ. So geht auf Kissingers Politik der blutige Sturz des sozialistischen Allende-Regimes in Chile 1971 und die Etablierung der mörderischen Militärdiktatur unter General Pinochets zurück. Auch „die von Kissinger inspirierte Nixonsche ‚Realpolitik‘ führte aus wahltaktischen Gründen zur Verlängerung des Vietnamkrieges um drei Jahre von 1969–1972. Dafür hatten 20.492 Amerikaner und rund 160.000 Südvietnamesen mit dem Leben zu bezahlen.“ Denn Kissinger redet von Ethos in der Politik und Wirtschaft nur negativ. Er vertritt die Auffassung, dass Politik, besonders „Außenpolitik nicht dieselben moralischen Maßstäbe wie eine persönliche Ethik reflektieren solle, dass der Staat und der Staatsmann ein Recht habe, eine besondere Moralität für sich zu beanspruchen“, selbst wenn dabei tausende Menschen sterben müssen. Deshalb sind seine politischen Vorbilder Kardinal Richelieu, Metternich, Bismarck und zum Teil auch Stalin. Für Mahatma Gandhi, Martin Luther King und Dag Hammerskjöld hat er politisch nichts übrig, da sie nur Idealisten und nicht „Realisten“ wie er sind.

Ich finde es gut, dass Hans Küng auf diese Persönlichkeit so konkret hinweist, um darzustellen, wohin Politik und Wirtschaft ohne Ethos führen. So kann man auch verstehen, dass der Autor sehr weit ausholend die jüngste europäische und amerikanische Geschichte als Folie benutzt, um zu zeigen wohin Politik und Weltwirtschaft ohne Ethos hinkommen. Spannend verfolgt man die politischen Ereignisse und Versäumnisse der Mächtigen in der europäischen und amerikanischen Geschichte von Bismarck bis Adenauer, von Präsident Wilson bis zu den Präsidenten Nixon, Ford, Reagan, Carter, Clinton und den beiden Bushs. Nicht zukunftsfähige Ideen, ethisch bedacht, sondern oft nur politische Interessen haben die Politik der Mächtigen bestimmt. Dies zeigt sich katastrophal im warnenden Beispiel von Jugoslawien, wo alle Politiker versagt haben, weil für sie nur Eigeninteressen aber kein Ethos eine Rolle spielten.

Deshalb erinnert Hans Küng daran, dass das „Projekt Weltethos“, das vom Parlament der Weltreligionen in Chicago 1993 die „Erklärung zum Weltethos“ herausbrachte, aus der „Perspektive der Menschenpflichten“ in Ergänzung der „Menschenrechte“ verfasst wurde, denn es gibt keine Menschenrechte ohne Menschenpflichten. Das aber ist eine ethische Grunderkenntnis, die für den einzelnen Menschen wie für Politiker gilt und religiöse Wurzeln hat. Interessant für diesen Akzeptanzprozess ist die nachhaltige Bestätigung der Erklärung von Chicago durch einen Report des „Inter Action Councils“ früherer Staats- und Ministerpräsidenten unter dem ehemaligen deutschen Bundeskanzler Helmut Schmidt, die 1996 in Vancouver verabschiedest wurde. Dort sind vier unverrückbare Weisungen für die Politik gegeben:

„ – die Verpflichtung auf eine Kultur der Gewaltlosigkeit und der Ehrfurcht vor allem […] Leben, […]

– die Verpflichtung auf eine Kultur der Solidarität und eine gerechte Wirtschaftsordnung […]

– Eine Verpflichtung auf eine Kultur der Toleranz und ein Leben in Wahrhaftigkeit. […]

– Die Verpflichtung auf eine Kultur der Gleichberechtigung und die Partnerschaft von Mann und Frau“.

So großartig Hans Küng in diesem Teil die Bedeutung von Ethos für die Weltpolitik und Weltwirtschaft darstellt, so enttäuscht ist man im anderen Buch „Anständig wirtschaften. Warum Ökonomie Moral braucht“, dass der Autor nicht tiefschürfend die Schwächen der gegenwärtigen Wirtschaft analysiert, die heutige Kritiker schon als Gier-Wirtschaft (Manfred Folkers) anprangern.

Wie vorsichtig Hans Küng mit Kritik ist, weil er anscheinend nichts von „sündigen Strukturen“ weiß oder wissen will, zeigt sich darin, dass in seinem ganzen Werk nicht Sätze wie die von Papst Franziskus zum gegenwärtigen Wirtschaftssystem vorkommen wie „Diese Wirtschaft tötet“ (Apostolisches Schreiben „Evangelii Gaudium EG). Dort steht auch, dass es nicht reicht „auf die blinden Kräfte und die unsichtbare Hand des Marktes zu vertrauen“. Selbst bei der Diskussion um das Geldwesen referiert Küng zwar die Problematik des Zinses im Judentum, Christentum und Islam, aber er weiß nichts von einem Geldreformmodell, von „Geld ohne Zinsen und Inflation“, wie es Margrit Kennedy schon 1990 vorgestellt hat, ganz zu schweigen von Helmut Creutz’s Standardwerk „Das Geldsyndrom. Wege zu einer krisenfreien Marktwirtschaft“. Diese Ignoranz ist nicht zu verzeihen und zeigt deutlich auf, dass der Appell an ein Wirtschaftsethos nicht ausreicht, um ein ausbeuterisches System zu kippen und lebensdienliche Geld-, Boden-, Eigentums- und solidarische Wirtschaftsstrukturen zu schaffen.

Somit ist Hans Küngs opus magnum ein großes Werk mit leider fehlender Tiefenbohrung für ein neues gerechtes Wirtschaftssystem.

Hans Küng: Sämtliche Werke, Band 20: Weltpolitik und Weltwirtschaft, Herder, Freiburg i. Br. 2019, 584 Seiten, 90,00 Euro.