23. Jahrgang | Nummer 13 | 22. Juni 2020

Globalisierungsschmerzen

von Erhard Crome

Am Anfang des Buches beschreibt Nadav Eyal eine Szene in Manhattan am 8. November 2016. In einem riesigen Saal hatten sich tausende Menschen versammelt, um den Wahlsieg der erwarteten „Anführerin der freien Welt“ zu feiern. Es wurden T-Shirts mit „President Hillary“ oder Hillary Clinton im Superwoman-Outfit verkauft und Blechbuttoms, die an den historischen Tag erinnern sollten. „Auf der Bühne hatte man, in allen Farben des Regenbogens, das repräsentative und politisch korrekte Amerika platziert, Vertreter sämtlicher Bevölkerungsgruppen: Heteros und Homosexuelle; Hispanics, Schwarze und Weiße; Frauen und Kinder. Diese Menschen sollten die neue Zeit symbolisieren, die mit der Wahl der Präsidentin eingeläutet werden würde.“ Sie warteten stundenlang und geduldig auf den historischen Moment. Doch Clinton betrat nie diesen Saal, sah nichts von der Party. Die Leute schauten ungläubig auf ihre Handys und gingen spät in der Nacht weinend nach Hause. Donald Trump hatte die Wahl gewonnen. Entgegen allen Erwartungen.

Nadav Eyal, geboren 1979, gilt als einer der bekanntesten Journalisten Israels. Er beschreibt sehr dicht und sehr plastisch wichtige Orte unserer Zeit, und er ist dort überall gewesen, hat mit Betroffenen gesprochen, mit syrischen und irakischen Flüchtlingen an der ungarisch-serbischen Grenze 2015, mit Rechtsextremen in Großbritannien, Frankreich und Deutschland, mit griechischen Anarchisten, die zur Demo-Vorbereitung Molotow-Cocktails abfüllten, mit Bauern in Sri Lanka, die dort ihre Äcker haben, wo die letzten freilebenden Elefanten auf der Insel ihr immer kleineres Reservat haben, mit verarmten US-amerikanischen Arbeitern im „Rust Belt“ und mit gutverdienenden Computer-Spezialisten in Kalifornien, die dennoch um ihre soziale Zukunft bangen.

Zu wichtigen Hintergründen hat er historische Exkurse eingebaut, über die Opium-Kriege Großbritanniens im 19. Jahrhundert, um China für die europäische Vorherrschaft zu öffnen, über den Freiheitskampf der Sklaven von Haiti, deren Staat Anfang des 19. Jahrhunderts nie anerkannt wurde, auch von den USA nicht, obwohl dies die zweite freie Republik auf dem amerikanischen Kontinent war – das hätte ja die Sklaven in den USA ermuntern können. Das Zwangsregime, das die europäischen Mächte Haiti auferlegten, machte aus der einst reichsten Insel der Karibik die ärmste. An anderer Stelle eine luzide Darstellung der Geschichte der Emigrationen in Europa, die immer auch Flucht und Vertreibung von Juden waren, und der Erfindung des Passes, dessen Fehlen vielen Juden in den 1930er Jahren zum Verhängnis wurde. Und dessen immer perfektere Gestaltung heute die absolute Kontrollierbarkeit der Grenzen durch den Staat ermöglicht. Zur Flüchtlings-Debatte macht Eyal deutlich: „Man vergisst leicht, dass Westeuropa die Heimat der weißen, christlichen Homogenität ist. […] Jahrhunderlang war man dort mehr als irgendwo sonst darauf bedacht, ethnisch-religiöse Minderheiten loszuwerden – mittels Segregation, Vertreibung und gelegentlich Vernichtung.“

Das Imperium USA beschreibt Eyal zunächst aus der Sicht des Beteiligten. Als junger Journalist durfte er Premierminister Ariel Sharon zu einem Termin beim US-Präsidenten begleiten. „Die Hierarchie ist glasklar – zum Beispiel in der Schlange vor dem Oval Office für den kurzen Fototermin mit deinem eigenen, ins Weiße Haus gepilgerten Regierungschef und dem amerikanischen Präsidenten. Dessen Mitarbeiter erklären einem die Regeln klipp und klar, sie schicken sofort Personen weg, die diese Regeln zu brechen gedenken. Und es ist völlig klar, dass diese Pilgerfahrt ganz normal ist, so als wären wir am Hof des Kaisers von China im 14. Jahrhundert. Man bekommt verdeutlicht, welchen Platz man in dieser Welt einnimmt. Und dann bist du drinnen, und Präsident Bush sitzt selbstzufrieden neben deinem alternden Ministerpräsidenten, einem Mann, der – für ganze Nationen schicksalsentscheidende – Panzerschlachten befehligte, und dieser Mann schwitzt, steht sichtlich unter Druck. In so einem Moment wird dir klar, wer die Macht hat und die Gelassenheit, sie auszuüben.“ Die Globalisierung hat die internationalen Beziehungen erweitert und vertieft, aber keine Gleichheit gebracht, sondern politische und wirtschaftliche Hierarchien geschaffen, reproduziert und gesichert.

Eyal betont zu Recht, dass die industrielle Revolution und die damit verbundene Globalisierung in den vergangenen 200 Jahren viele Fortschritte bewirkt hat: der Lebensstandard und die Lebenserwartung stiegen, die Kindersterblichkeit sank, die Einkommen wuchsen. 1950 lebten über 70 Prozent der Weltbevölkerung in bitterer Armut, also von weniger als zwei Dollar pro Tag, heute sind es 16 Prozent. 1950 konnte kaum die Hälfte der Weltbevölkerung lesen und schreiben, heute können es 86 Prozent. Gleichwohl nahm diese kapitalistische Industrie und die damit verbundene Globalisierung auf Mensch und Natur in den verschiedenen Weltgegenden keine Rücksicht. Hinter den durchschnittlichen Daten verbergen sich sehr unterschiedliche konkrete Entwicklungen.

Gleichzeitig jedoch hat die globalistische Ordnung mit ihren Hierarchien, darunter auch innerhalb der EU, die Nationalstaaten sowie die regionalen, kulturellen und traditionellen Gemeinschaften geschwächt. So wuchs mit dem schnellen Fortschreiten „des aktuellen Globalisierungsschubs und dem zunehmenden Einfluss globaler Beziehungen auf das Leben der Menschen […] auch die Opposition dagegen“: „Anarchisten, Umweltschützer, Marxisten, Populisten und zahlreiche andere. Der härteste und älteste Kern der Revolte ist der Fundamentalismus.“ In allen seinen Gestalten, der religiöse wie der Nationalismus. Im Kern handelt es sich um einen Rückzug: „Europäer und Amerikaner hatten die Welt mit den modernen Ideen von Übernationalität und Universalismus vertraut gemacht. Als die nicht weiße Welt, China und der globale Süden, an Bord des Globalisierungsdampfers ging verließ ein Teil der – weißen – Bewohner der Industriestaaten lieber das Schiff.“

Für die USA hatte dies noch eine spezielle Dimension. Die unter Bezug auf die Globalisierung vollzogene Umverteilung zugunsten der Oberschichten bei gleichzeitiger Übervorteilung der Mittelschichten hatte letztere geschwächt. Zudem wurde nie offen über die Globalisierung diskutiert. Der innerste Kern der USA fühlte sich bedroht und war verängstigt. Die Kriege gegen Afghanistan und Irak nach dem 11. September 2001 hatten mindestens drei Billionen Dollar gekostet. Für große Teile der Bevölkerung entstand der Eindruck, die Eliten in Washington kümmerten sich um alles Mögliche in der Welt, nur nicht um sie. Das war die Stunde des Donald Trump, der mit einem Programm des Nationalismus und Anti-Globalismus ins Weiße Haus einzog.

Am Ende möchte Eyal auch Alternativen anbieten. Das bleibt im Vergleich zu seinen analytischen Darstellungen eher schwach. Zunächst meint er, die USA sollten „in die globale Leitzentrale zurückkehren“, der „Rückzug aus ihren Großmachtpflichen“ müsse ein Ende haben. Damit erklärt er Trump zur Ursache der heutigen Lage und nicht zur Folge der Überdehnung der USA. Es folgt eine Liste all der guten und schönen Dinge, vom Klima-Schutz über die Regulierung der Finanzmärkte bis zur Forderung, Flüchtlinge als Chance für die westlichen Länder zu sehen. Das ist im Grunde bekannt, aber schon seit langem fehlt der politische Wille, dies umzusetzen. Am Ende hofft er angesichts von Trump darauf, dass Deutschland „Verantwortung“ übernimmt, „nicht nur für die eigene Nation oder für Europa, sondern für den weltweiten Diskurs“. Der Mann ist Optimist. Das haben die hierzulande regierenden Krämerseelen bisher nicht einmal für die Menschen in der EU zustande gebracht.

Nadav Eyal: Revolte. Der weltweite Aufstand gegen die Globalisierung, aus dem Hebräischen von Ruth Achlama, Ullstein Buchverlage, Berlin 2020, 496 Seiten, 29,99 Euro.