23. Jahrgang | Nummer 12 | 8. Juni 2020

Das andere Prora

von Dieter Naumann

Der „Koloss von Rügen“, das nie fertiggestellte „Kraft durch Freude“-Bad, dürfte für viele Rügenreisende die erste Assoziation mit dem Namen „Prora“ sein. Nur eines der in einem Beschluss vom Juni 1935 geplanten fünf KdF-Seebäder an Nord- und Ostseeküste für jeweils 20.000 Urlauber wurde mit der Grundsteinlegung am 2. Mai 1936 in Angriff genommen: Prora auf Rügen.

Bis 1935 finden sich in den Reisführern unter „Prora“ nur spärliche Hinweise: „Die Insel Rügen. Ein Taschenbuch für Reisende“, 1844 in der zweiten Auflage bei Lion Saunier in Stettin erschienen, verweist auf eine „Försterwohnung“ mit sechs Einwohnern, zur Grafschaft Putbus und zum Kirchspiel Zirkow gehörend. Der Reiseführer von Grieben für 1910–1911 erwähnt das „Forsthaus Prora“, „wo man in freundlichster Weise Erfrischungen aller Art erhält“, Woerls „Reisehandbuch“ von 1911 verweist auf das alte fürstliche Jagdschloss und „gute Verpflegung beim Förster“.

Alle meinen das gleiche Gebäude.

Wann das Haus im Stile des Historismus, das seine Ähnlichkeit mit dem Jagdschloss Granitz nicht verleugnen kann, im Auftrag des Fürsten Malte zu Putbus errichtet wurde, geht aus der Literatur nicht eindeutig hervor. Genannt werden 1858/59 und der Zeitraum zwischen 1864 und 1867, der Beginn der Planungen wird mit 1836 datiert. Nicht völlig geklärt ist auch, wer für den Bau des Jagdhauses mit dem angeschlossenen Stallgebäude verantwortlich zeichnete. Benannt wird neben dem Fürsten Malte selbst in erster Linie Johann Gottfried Steinmeyer, der auch die ersten Pläne für das Jagdschloss fertigte, weiterhin Friedrich August Stüler, der frühere Entwürfe geliefert haben könnte. Als Baumeister wird Theodor Bamberg erwähnt, auf den Bauplänen zeichnet ein Bauinspektor Rothe verantwortlich.

Bei einem Ausflug des Königlichen Pädagogiums Putbus um 1888 wird ein Besuch des „Fürstlichen Forsthauses“, in dem Förster Feist die Schankgerechtigkeit besitzt, geschildert: Der Zuspruch sei sonst nicht sehr groß gewesen, an diesem Tag mangelt es jedoch an Gläsern. Das Bier wird deshalb auch in Wassergläsern, Tassenköpfen und Milchtöpfchen ausgeschenkt. Die Frau des Revierförsters Constantin Hahnel, des Nachfolgers von Feist, erhält später nur die Genehmigung zum Ausschank von Milch, Kaffee und alkoholfreien Getränken und betreibt zeitweise eine „Briefablage“, eine Art Postfiliale. Hahnel war für stolze 35 Jahre (von 1900 bis 1935) Revierförster von Prora. Die letzten Mieter ziehen 1992 wegen des starken Schwammbefalls aus dem Forsthaus, das fortan zunehmend verfällt. 2013 eröffnet hier das „Naturerbe-Zentrum Rügen“ der Deutschen Bundesstiftung Umwelt mit dem 1250 Meter langen Baumwipfelpfad und dem 40 Meter hohen Turm („Adlerhorst“).

Weniger bekannt sein dürfte das nicht mehr existierende „Kurhaus Prora“ am Ende der Binzer Strandpromenade. Ansichtskarten zeigen es entweder auf mit „H. Hintze“ signierten Zeichnungen oder Fotografien. Auf den Zeichnungen ist ein gelblich verputztes vierstöckiges Haus mit kugelig geschnittenen Bäumen an der Strandpromenade zu sehen, am Strand befinden sich ein Mast, der für Übungen mit dem Raketenapparat (einem Gerät zur Seenotrettung) oder lediglich als Dekoration gedient haben könnte, sowie Strandkörbe und Umkleidekabinen.

Im Reiseführer von Arthur Schuster für 1907–1908 wird durch Besitzer und Leiter Carl Sczesny auf die Lage dieses „neuen Kurhauses Prora-Binz“, zehn Minuten von der Seebrücke, abseits vom Badetrubel, staubfrei und ohne Wagengeräusche, hingewiesen. Von der großen Terrasse, aus den Speisesälen und Loggien der Wohnräume habe man freien Blick auf die Ostsee und ihre „waldumkränzten Ufer“. Für eines der „vorzüglich ausgestatteten“ Zimmer mit zwei Betten werden 30 bis 42 Mark pro Woche, für zwei Zimmer mit vier Betten 60 bis 84 Mark, für einen Salon mit zwei Zimmern, „anlieg. 4-5 Betten“, 96 bis 120 Mark inklusive Frühstück gefordert. Mittagstisch und Abendkarte sind „reichhaltig und preiswert sowohl im Weinrestaurant als auch im Kurhauscafé“. Auf Grund der Lage des Hauses in der Gemarkung Prora müssen die Gäste keine Kurtaxe zahlen. Der Grieben-Reiseführer von 1912–1913 nennt 76 Zimmer zum Wochenpreis von zehn bis 20 Mark, Frühstück für eine Mark, Diner für zwei bis 2½ Mark, Souper für 1½ Mark und Pension ohne Zimmer für vier bis 4½ Mark.

1918 erwirbt der „Reichsdeutsche Blindenverband e. V.“ das Kurhaus, das 100 Personen Aufenthalt zu Hotelbedingungen bot, verpachtet es aber 1920, weil sich die Bedingungen für die Sehbehinderten letztlich als ungünstig erwiesen, und verkauft es schließlich 1921.

1926 erwähnt der Reiseführer erstmals das „Kaufmanns-Erholungsheim (Ferienheim für Handel u. Industrie), früher Kurhaus Prora“. Auskünfte erteilen der Binzer Kaufmann Wienkoop oder die 1910 in Wiesbaden gegründete „Deutsche Gesellschaft für Kaufmanns-Erholungsheime e. V.“, die das Haus wohl zu dieser Zeit erworben hat. Die Gesellschaft sollte kaufmännischen Angestellten einen preisgünstigen Erholungsurlaub ermöglichen. 1938 ist das Heim der Organisation „Kraft durch Freude“ zugeordnet.

Ein Prospekt von 1939, wonach das Heim in zwei Häusern und 84 Zimmern 145 Personen Aufenthalt bot, gibt Auskunft über die Gepflogenheiten im Haus. Bei der jetzt erhobenen Kurtaxe (zwischen 0,80 und 0,30 Reichsmark pro Tag und Person) kann auf Antrag und bei einem Einkommen unter 1800 RM bis zu einem Drittel Ermäßigung gewährt werden. Der „Verpflegungssatz“ (die Übernachtung ist augenscheinlich eingeschlossen) beträgt für Erwachsene und Kinder ab elf Jahre vier Mark, für jüngere Kinder gelten altersabhängig geringere Preise. Abschläge vom Verpflegungssatz gibt es auch für Familien mit mindestens vier Kindern, außerdem bei vorher angekündigter Unterbrechung des Aufenthalts und gleichzeitigem Verzicht auf „Reisebrot“. Bei Nichteinhaltung der Mahlzeiten und entsprechender Nachbedienung („kein Anspruch!“) sind 20 Pfennige Gebühr zu zahlen, nicht eingenommene Mahlzeiten werden nicht erstattet. Das Bedienungsgeld beträgt zehn Prozent der Rechnung. In den Zimmern darf nicht gekocht, gewaschen oder geplättet werden, Wäsche an den Fenstern oder auf den Balkonen aufzuhängen ist nicht gestattet. Geschirr darf ohne Erlaubnis nicht mit auf die Zimmer genommen werden. Treffen Gäste nach dem „Verschluss“ des Hauses (23 Uhr) ein, ist eine Gebühr von 20 Pfennigen, bei mehreren Personen maximal 75 Pfennigen, zugunsten des öffnenden Hausdieners zu zahlen. Die Zimmer werden täglich aufgeräumt und gereinigt, für jeden Gast besteht Anspruch auf tägliche Reinigung von einem Paar Schuhe. Die Aufenthaltsdauer beträgt maximal 21 Tage, kann aber, sofern möglich und gegen Aufschlag, verlängert werden.

Ab November 1936 zieht der Baustab für das KdF-Bad unter Clemens Klotz in das Haus ein, in den 40er Jahren wird es im Rahmen der Kinderlandverschickung belegt (allerdings nur in den Sommermonaten, weil es nicht beheizbar war), unter anderem mit Schülern aus Stettin und Lübeck. Nach dem Krieg beherbergt das Haus zunächst bis 1952 Umsiedler, befindet sich in Rechtsträgerschaft des FDGB, soll saniert und mit Feriengästen belegt werden, wird aber schließlich abgerissen.