23. Jahrgang | Nummer 10 | 11. Mai 2020

Eine Geschichte vom 30. April 2020

von Wolfgang Hochwald

Wahrscheinlich war das von Anfang an eine dumme Idee mit dem Schlaflabor. Einen Monat lang unter Aufsicht und Versorgung schlafen, hieß es in der Anzeige, damit die Klinik in dieser Zeit meinen Körper und meine Atmung beobachten könne. Um irgendwas für Weltraumflüge zu testen. 3000 Euro Bezahlung. Weil ich das fair fand und jeden Euro gebrauchen kann, habe ich mich dort gemeldet. Nach einem Vorgespräch im Dezember musste ich am 2. Januar wieder da sein, wurde nochmals untersucht, an die künstliche Ernährung angeschlossen und zum Einschlafen gebracht.

Warum die mich vergessen haben, konnte mir bis jetzt keiner so richtig erklären. Sie wären so sehr mit diesem Virus beschäftigt gewesen, meinte der Professor gestern, als sie mich geweckt haben. Und es täte ihm wirklich ausgesprochen leid, dass sie über all dem Stress nicht mehr nach mir geschaut hätten. Heute erklärt er mir, dass ich auf jeden Fall immer gut ernährt worden sei und ich mir keine Sorgen um meine Gesundheit machen müsse. Wahrscheinlich hätte ich es bei ihnen viel besser gehabt, als wenn ich draußen in der Welt gewesen wäre. Und jetzt könne ich wieder nach Hause gehen, denn sie bräuchten im Moment jedes Bett. „Moment mal“, merke ich an, „was für ein Tag ist denn heute überhaupt?“ „Der 30. April“, säuselt der Oberarzt verlegen durch seinen Mundschutz. „2020.“ „Dann bekomme ich noch für volle drei Monate meine Bezahlung“. Ja, ja, er werde das veranlassen, brummt der Professor, aber im Moment sei es knapp mit den Geldern. Könne ich mir ja denken mit dem Virus. Ich verstehe kein Wort. Sie geben mir noch ein Blatt mit Bewegungsübungen und die Überweisung zur Physiotherapie, meine Muskeln seien ja nichts Rechtes mehr gewohnt. „Ach ja, und nehmen Sie doch besser diesen Mundschutz mit“, sagt der Oberarzt noch. „Den brauchen sie jetzt.“ „Weil ich solange geschlafen habe?“ frage ich noch, aber da klingeln gleich mehrere Handys und die Ärzte brechen alarmiert auf. „Danke nochmal“, ruft der Professor im Rausgehen.

Draußen setze ich mich erstmal auf eine Bank, das Gehen ist noch etwas mühsam. Vielleicht hätte ich mir die Homepage dieser Klinik doch genauer ansehen sollen. Auf den ersten Blick wirkte alles seriös, aber als ich zum Vorgespräch hier war, kam mir das Gebäude doch etwas unheimlich vor. So eine alte Riesenvilla mit einem großen Eingangsbereich und einem merkwürdigen Pförtner. Wenn ich einen Anwalt kennen würde, könnte ich die vielleicht verklagen. Wegen Freiheitsberaubung oder so. Mal sehen.

Ich schalte mein Smartphone ein. Vier Monate nicht angehabt. Fünf Mails von der Bank, Konto im Minus, obwohl ich ja außer Miete und Strom keine Kosten hatte. Drei Mails mit Witzbildern von dem Bekannten aus Bremen. Finde ich ja nie lustig. Und ein Anruf auf der Mailbox von meiner Exfrau, wieso ich denn nicht zu erreichen sei, das wäre wieder mal typisch für mich gerade in einer Zeit wie dieser, aber es sollte ihr eigentlich egal sein. Mehr ist offensichtlich nicht passiert. Mir war klar, dass ich beim Schlafen nicht allzu viel verpasst hatte. Aber vier Monate? Erstmal schauen, wie der FC in der ganzen Zeit gespielt hat. Der hatte sich im Dezember ja gerade wieder gefangen nach dem katastrophalen Saisonstart. Kicker.de Startseite, Köln hat Chancen, Uth zu halten. Ich wusste gar nicht, dass der jetzt für uns spielt. Wo sind die Spieltage? Das mache ich mir jetzt mal richtig spannend. Ich gehe Spieltag für Spieltag ab dem 17. Januar durch. Gegen Dortmund und Bayern verloren ist nicht schlimm. Aber 5:0 bei Hertha gewonnen, 3:0 gegen Schalke, Wahnsinn, das wird ja noch eine richtig gute Saison. In Gladbach verloren, blöd. Aber was heißt hier Geisterspiel? Und was ist denn jetzt los, alles ab dem 26. Spieltag abgesagt. Hat es einen Terroranschlag gegeben?

Ich schaue beim Express nach. Breaking News: „Bund will Spielplätze wieder öffnen.“ ?? „Corona Alarm an Kölner Schule.“ Corona ist doch dieses Bier. Haben die Schüler bei den Abiturfeiern wieder zu viel getrunken und Krawall gemacht? „Körper wie eine 20-Jährige. Model-Ikone Claudia Schiffer (49) raubt Fans den Atem.“ Soweit scheint ja alles ok zu sein. Aber schon wieder eine neue Breaking News: „Beschränkungen in Deutschland sollen verlängert werden.“

Ich verstehe langsam. Es gibt ein Virus. „60.000 Tote in den USA, 6.132 in Deutschland.“ Oh je. „10,1 Millionen Menschen in Kurzarbeit.“ Habe ich schon mein ganzes Leben. „Krankschreibungen per Telefon vorerst bis 18. Mai möglich.“ Das ist wiederum gut. Aber ich muss mir jetzt eh wieder eine neue Arbeit suchen. Wobei, wenn mir die Klinik noch die drei Monate bezahlt, bin ich erstmal fein raus.

Ich mache mich auf den Weg nach Hause. Es sind nicht viele Menschen auf der Straße. Auch keine größeren Gruppen. Eigentlich immer nur zwei Menschen auf einmal. Die meisten tragen so eine Mundschutzmaske. Und viele haben Klopapier dabei. Ob dieses Corona Darmprobleme bereitet? Mir kommt es so vor, als wenn auch weniger Autos unterwegs wären. Die meisten Fußgänger weichen mir aus. Manche gehen sogar auf die andere Straßenseite. Was ist mit mir? Ich hätte in der Klinik nochmal in den Spiegel schauen sollen. Und wieso sind so viele Jogger unterwegs? Die weichen mir jedenfalls nicht aus. Hecheln laut atmend an mir vorbei. Die Spielplätze sind leer und mit Sperrschildern versehen. Auf dem Boden sehe ich viele mit Kreide gemalte Bilder und Sätze. Anscheinend senden sich die Kinder so Nachrichten. Ob Whatsapp nicht mehr funktioniert? In der Grundschule ist alles ganz ruhig. Da toben um diese Zeit sonst immer die Kinder auf dem Schulhof. An vielen Fenstern hängen selbst gemalte Bilder mit einem Regenbogen und den Worten „Bleibt gesund“. Alle Kneipen und Restaurants sind zu. Man kann bei manchen was zum Mitnehmen kaufen, muss zum Essen aber 50 Meter weit weggehen. Vor dem Rewe steht eine lange Schlange und ein Security Mann. Plündern die Kölner jetzt ihre Supermärkte? An der Buchhandlung ein Schild, dass immer nur zwei Personen gleichzeitig rein dürfen. Der Friseur macht am 4. Mai wieder auf. Die Kita „Die Rasselbande“ ist auch zu. Da sitzen die Kuscheltiere einsam im Fenster und schauen traurig vor sich hin. Wer weiß, wie lange die schon nicht mehr von Kindern in den Arm genommen worden sind. Den großen Panda und den kleinen Affen habe ich der Kita geschenkt, als meine Tochter weggezogen ist.

Ich muss mich jetzt erst mal beim Bäcker mit einem Kaffee und einem Croissant hinsetzen. Das gehe nicht, ruft mir die Verkäuferin zu, sie verkaufe nur zum Mitnehmen und ich solle ganz schnell den Laden verlassen, da ich keinen Mundschutz trage. Das könne für mich und sie teuer werden. Zu Hause muss ich erstmal lüften. Mief von vier Monaten. Da steht noch mein Sektglas von Silvester ungespült auf dem Tisch. Ich schaue am Laptop, was in den letzten Monaten so alles passiert ist. Und wann der FC wieder spielt.

Am Abend habe ich verstanden, was los ist. Dass Angela Merkel jetzt die beliebteste deutsche Politikerin ist, alle Jens Spahn mögen, mein Berufsleben besser verlaufen wäre, wenn ich Virologe geworden wäre, es doch noch keinen neuen CDU Vorsitzenden gibt, aber Markus Söder das am liebsten gleich mitmachen würde, die AfD deutlich an Zustimmung verloren hat (yeah!) und die Wirtschaft am Boden liegt. Dann fällt mir noch ein, dass ich in meiner Schlafphase das Konzert mit Fortuna Ehrenfeld im Gloria verpasst habe. Es ist aber wegen Corona ausgefallen und wird irgendwann nachgeholt. Keiner weiß, wann wieder Fußball ist. In Urlaub fahre ich sowieso nie. Die Schulen machen nur langsam und die Kitas erst irgendwann wieder auf.

Ich gehe nochmal zum Briefkasten. Zwischen der ganzen Werbung liegen mehrere Briefe der Schlafklinik. Warum ich zum vereinbarten Termin am 02. Januar 2020 nicht erschienen wäre. Von daher könnten sie mir auch nicht die vorgesehene Vergütung zahlen. Ich spüre einen leichten Hustenreiz.

Um 21 Uhr höre ich, wie Leute klatschen. Für die Helferinnen und Helfer in der Krise habe ich gelesen. Ich klatsche mit, aber nicht für die Ärzte in der Klinik, in der ich war. Und denke nach: Gibt es irgendetwas, das ich in dieser Krise tun kann?

Express Online vom 01. Mai 2020

Der Kuscheltierfreund

Ein Kölner wurde am frühen Morgen inmitten einer großen Ansammlung von Kuscheltieren in der Kita „Die Rasselbande“ gefunden. Der von der Polizei aus tiefem Schlaf geweckte 47-jährige gab zu Protokoll, dass sich irgendjemand doch um die einsamen und traurigen Kuscheltiere kümmern müsse. Die Betreiber der „Rasselbande“ zeigten in einer ersten Reaktion Verständnis für die Tat des Mannes.