23. Jahrgang | Nummer 10 | 11. Mai 2020

Ein Desaster

von Wolfgang Brauer

Am 23. April forderte der Verband deutscher Schriftsteller anlässlich des „Welttages des Buches und des Urheberrechts“ eine Stärkung der Urheber in ihren Rechten. Dagegen ist nichts einzuwenden, ganz im Gegenteil. Die Einkommenssituation von Schriftstellern war schon bislang miserabel genug. Die Autorin Annette Huesmann wies im August 2019 in ihrem Blog Die Schreibtrainerin für einen „typischen Roman“ auf einen Durchschnittsstundenlohn von 4,00 Euro hin. Brutto. Allerdings ging sie optimistisch von 10.000 verkauften Exemplaren eines Titels aus. Das wäre beinahe ein Bestseller nach heutigen Auflagenhöhen. Der stern kalkulierte 2018 etwas vorsichtiger: 4000 Exemplare Hardcover á 20,00 Euro ergäben in der Regel monatlich 667,00 Euro brutto. Hinzu kommen Lesehonorare, Medienarbeiten, Stipendien, Preise und ähnliches. Das Durchschnittsmonatseinkommen der bei der Künstlersozialkasse (KSK) versicherten Autoren liegt bei 1820 Euro (Stand 1.1.2019).

Aber das realisiert sich nur, wenn die Schriftsteller ihre Bücher verkaufen. Und sie sind – trotz der scheinbar verführerischen Selbstvermarktungsangebote von Self-Publishing-Plattformen – auf den Buchhandel und die Verlage angewiesen. Hier dominiert das gedruckte Buch. Nach Recherchen des Handelsblattes hatten e-Books 2018 einen Marktanteil von lediglich fünf Prozent, der stationäre Verkauf machte im selben Jahr immerhin 47 Prozent des gesamten Buchmarktes aus. Der deutsche Markt wird von den großen Ketten quantitativ dominiert, aber 90 Prozent der Buchhandlungen sind kleine Läden. Insgesamt sind derzeit etwa 27.500 Menschen im Buchhandel beschäftigt. Im Land waren 2018 rund 3000 Verlage aktiv, die einen Jahresumsatz von 5,14 Milliarden Euro realisierten.

Insgesamt handelt es sich beim Literaturbetrieb um ein äußerst fragiles Konstrukt, das alles andere als krisenfest aufgestellt ist. Die Autoren sind auf ihre Verlage angewiesen. „Wir Verlage sind darauf angewiesen, dass die Buchhändler überleben“, drückt es der Kölner Verleger Hermann-Josef Emons aus. Und das ist derzeit für viele ungewiss. Nach Angaben des Deutschen Börsenvereins für den Buchhandel erzielen die Buchhändler und Verlage zumeist eine Umsatzrendite von ein bis drei Prozent. Finanzpolster zu bilden ist nur den „Großen“ möglich. Da schlagen dann wirtschafts- und finanzpolitische Entscheidungen, die auf den ersten Blick nur sehr mittelbar mit dem Buch zu tun haben, erheblich ins Kontor. Die mehr als zweifelhaften Portoerhöhungen der Deutschen Post hatten für den Buchhandel Erhöhungen bis zu 60 Prozent zur Folge. Die Veränderung der Maße für Postsendungen führte dazu, dass für ein Drittel der Sendungen des Buchhandels das deutlich höhere Paketporto fällig ist.

In den Zeiten der Corona-Krise macht sich das für viele Buchhändler auf verheerende Weise bemerkbar. Die von kenntnisarmen Politikern und ihren Nachplapperern ausgesprochene Empfehlung der Umstellung auf „Online“ hat die Ausplünderung durch die Post zur Folge. Alexander Skipis, Hauptgeschäftsführer des Börsenvereins wies noch auf einen anderen Aspekt hin: „Außerdem diskriminiert der Versanddienstleister Buchhandlungen und Verlage, indem er Großkunden wie Amazon deutlich bessere Konditionen beim Versand von Büchern einräumt.“ Bücher werden von Amazon für die Besteller kostenfrei zugesendet. Wenn überhaupt. Mitte März hatte der Online-Riese mitgeteilt, dass er seine Geschäftstätigkeit „prioritär“ auf Lebensmittel, Haushaltsartikel und Kosmetika ausrichten und bis Anfang Mai keine neuen Bücher mehr ordern werde. Bettina Baumann bezeichnete in der Deutschen Welle diese Entscheidung als „ein wenig paradox, wurde der US-Internetriese doch einst mit Büchern groß“. Lediglich die Bundesländer Berlin und Sachsen-Anhalt bewiesen so viel wirtschaftliche und kulturelle Vernunft, ihren Buchhändlern die Entscheidung über das Öffnen ihrer Läden selbst zu überlassen.

In einem von Martin Arz (Hirschkäfer Verlag) im Auftrag einer Gruppe von Münchner Verlegern verfassten „Offenen Brief“ an das bayerische Kultusministerium wird auf die Folgen dieser Entscheidungen hingewiesen: „Mit der wochenlangen Schließung von Buchhandlungen brach für uns unabhängige Verlage die wesentliche, beinahe ausschließliche Distributionsmöglichkeit weg.“ Die Verleger schlagen deshalb vor, „Kulturschaffenden, die erwerbbare Produkte in welcher Form auch immer anbieten, Ladengeschäfte in zentraler Lage zu Sonderkonditionen für mindestens drei Monate zur Verfügung“ zu stellen. Wohlgemerkt, sie wollen keine Subventionen. Sie erwarten strukturelle Förderung.

Insgesamt ist das alles für die meisten Verlage eine Katastrophe. Die Umsatzeinbrüche betragen teilweise bis zu 50 Prozent. Hinzu kommen dramatische Entscheidungen wie das Absagen der Leipziger Buchmesse. Frankfurt zieht sich noch auf das Prinzip Hoffnung zurück: „Nach heutigem Informationsstand gehen wir davon aus, dass die Frankfurter Buchmesse vom 14.-18. Oktober 2020 stattfinden wird“, erklärte deren Direktor Juergen Boos. Für die kleineren und ganz kleinen Verlage verheerender – Messestände sind für diese oftmals kaum finanzierbar – ist der Wegfall von regional und lokal angesiedelten Verkaufsmessen und geplanten Lesereisen ihrer Autoren. „Aber wie macht man auf seine Bücher, seinen Verlag aufmerksam? Indem man immer wieder dahin geht, wo Leser und Buchhändler sind“, sagt der Thüringer Verleger Siegfried Nucke (Verlag Tasten & Typen Bad Tabarz) dem Blättchen gegenüber. Er bezeichnet die gegenwärtige Situation als Desaster. „Die Neuerscheinungen 2020 werden auch die Neuerscheinungen 2021 sein – man kann die Bücher nicht einfach so entfallen lassen, das geht natürlich aus finanziellen Gründen nicht – aber auch aus Respekt den Büchern und Autoren gegenüber. Und das hat weitere Folgen – Covergestalter, Layouter und Autoren werden keine Aufträge bekommen oder Neuerscheinungen werden verschoben. Das machen eigentlich alle, von denen ich gehört habe, die größeren schieben das Herbstprogramm in das Frühjahr oder ähnliches.“

Ähnlich dramatisch sieht das auch der Mitteldeutsche Verlag Halle/Saale. Ende April machte er mit einer Mitteilung „Zur Situation des Mitteldeutschen Verlages“ auf seine aktuelle Lage aufmerksam: „Seit Mitte März registrieren wir einen starken Einbruch der Verkaufszahlen, einzelne Frühjahresneuerscheinungen wurden schon nach wenigen Tagen aus dem Sortiment zurückgegeben, da auch der Buchhandel kein Kapital binden kann. In der zweiten Märzhälfte hatten wir nur 20 Prozent des Umsatzes des Vorjahres, der April begann gar mit Minusumsätzen. […] Im März haben wir ein Drittel der Rücklagen der vergangenen 15 Jahre aufgebraucht!“ So klingt ein Hilferuf. Ein Unternehmer veröffentlicht solche Daten in der Regel nicht freiwillig.

Mit dem Corona-Debakel verschärfen sich de facto Entwicklungen, die sich seit längerem fast unbemerkt vollziehen. 2016 fällte der Bundesgerichtshof ein Urteil, nach dem die Verlage ihre Verlegerbeteiligung an die VG Wort (und die VG Bild-Kunst) zurückzahlen müssen. In jenem Jahr machte das zum Beispiel für den Berliner Ch. Links Verlag 50.000 Euro aus, eine Summe, die für kleinere Verlage kaum zu stemmen ist. Für den Mitteldeutschen Verlag bedeuten diese Abgaben etwa ein Drittel des Verlagsgewinnes. Autoren und Bildkünstlern kommt das übrigens so gut wie gar nicht zugute. Im Februar 2019 meldete der Zwischenbuchhändler KNV Insolvenz an. Neben den Auswirkungen auf das Weihnachtsgeschäft wirkten sich auch der Wegfall seiner Funktionen als IT-Dienstleister gerade für kleinere Buchhandlungen verheerend aus. Dann kam der erwähnte Porto-Raubzug. Dass die Literaturpräsenz in den Medien rückläufig ist und viele Buchhandlungen ihre Flächen immer mehr verkleinern, dürfte inzwischen jeder Leserin und jedem Leser aufgefallen sein. Die Hinweise aus dem kulturpolitischen und medialen Raum, man könne sich doch stattdessen „im Netz“ informieren, zeugen im besten Falle nur von eklatentem Unwissen, wie Kunst und ihre Vermittlung „funktionieren“. Im schlimmeren sind sie ein Beleg von Handlungsunwillen.

Erhebliche Finanzspritzen – Stichwort „Autogipfel“ – werden von der Branche überhaupt nicht verlangt. Die allermeisten Verleger und Buchhändler sind unternehmerisch erfahren genug, um auch schwierigere Phasen überstehen zu können. „Um Verlage zu stützen, braucht es strukturelle, grundsätzliche Überlegungen. Ganz ähnlich, wie Opernhäuser, Theater und Museen sie bekommen – sonst bleiben nur einige wenige Mainstream-Verlage übrig“, sagt der Verleger Siegfried Nucke. Sollte das so kommen, wird Corona wird die große Ausrede sein.