23. Jahrgang | Nummer 10 | 11. Mai 2020

Das Virus und das Militär

von Hubert Thielicke

Der Kapitän eines Flugzeugträgers mit einem Coronavirus-Ausbruch bittet die Marine um Hilfe – die Schlagzeile des San Francisco Chronicle am 31. März löste ein weltweites Presseecho aus. Was war geschehen? Am 27. März legte der nuklear angetriebene US-Flugzeugträger „Theodore Roosevelt“ an der US-Militärbasis auf der Insel Guam an. Einige Tage zuvor waren drei Besatzungsmitglieder positiv auf COVID-19 getestet worden; innerhalb der nächsten Tage erhöhte sich die Zahl dramatisch auf mehr als hundert. Das Drama mutierte zum handfesten Skandal: Der Kommandant des Schiffes, Kapitän Brett Crozier, wandte sich in einer Email an seine Vorgesetzten und schlug die Evakuierung der fast 5000 Mann zählenden Crew vor. Die USA befänden sich nicht im Krieg, es müssten keine Seeleute sterben, eine politische Entscheidung sei geboten, so Kapitän Crozier. Der Brief wurde der Zeitung zugespielt, was die Marineleitung empörte, die zunächst nicht auf den Vorschlag des Kapitäns einging. Vielmehr feuerte ihn der amtierende Marineminister Thomas Modly am 2. April. Kapitän Crozier habe seinen Alarmruf über unsichere Kanäle versandt und überhaupt nicht professionell gehandelt. Kurz darauf besuchte Modly den Flugzeugträger und kritisierte den ehemaligen Kommandanten scharf in einer Ansprache an die Besatzung, unterstellte ihm gar Panikmache und schlechtes Urteilsvermögen. Die Matrosen, die ihren früheren Kapitän als Helden ansehen, protestierten lebhaft. Da sein Verhalten in Washington auf heftige Kritik stieß, vor seitens demokratischer Politiker wie auch Marineexperten, sah sich Modly gezwungen, am 7. April zurückzutreten. Die Besatzung wurde inzwischen weitgehend evakuiert, die Wiedereinsetzung von Kapitän Crozier wird derzeit geprüft. Ende April belief sich die Zahl der Infizierten auf etwa 1100, einer starb, mehrere befinden sich im Hospital. Auch auf anderen Kriegsschiffen soll es inzwischen solche Fälle geben. Die US-Navy gehe davon aus, dass die chinesische Marine, den, zumindest zeitweisen, Covid-19-bedingten Ausfall aller US-Träger im Pazifik gezielt nutzen werde, um durch verstärkte Übungstätigkeit und Präsenz den militärischen Druck auf die Länder der gesamten Region bewusst zu erhöhen, so zitierte jedenfalls der Spiegel aus einem vertraulichen Lagebericht des deutschen Verteidigungsministeriums.

Auch der Fall des französischen Flugzeugträgers „Charles de Gaulle“ zeigte, dass derartige Großkampfschiffe mit tausenden Matrosen ideale Brutstätten für das Coronavirus sind. Etwa zur gleichen Zeit wie die „Theodore Roosevelt“ traf es das mit 40 Flugzeugen und Hubschraubern bestückte Flaggschiff der französischen Marine. Zunächst wurde der Ausbruch der Pandemie unterschätzt, Mitte April war jedoch bereits mehr als die Hälfte der etwa 2000 Seeleute zählenden Mannschaft infiziert. Andere militärische Aktivitäten blieben vom Virus ebenfalls nicht verschont. Mitte März musste das im Norden Norwegens stattfindende NATO-Wintermanöver Cold Response 2020 vorzeitig wegen Corona abgebrochen werden. Kurz darauf sagte die NATO die für April in Richtung russischer Grenze geplante Übung Defender 2020 ab. Mit etwa 37.000 Soldaten, vor allem aus den USA eingeflogenen, sollte es das größte Manöver der Allianz seit Jahrzehnten werden. Zugleich erregten Hilfslieferungen Chinas und Russlands, darunter auch an von COVID-19 besonders betroffene EU- und NATO-Länder, weltweites Aufsehen. Das scheint auch die NATO-Bürokraten in Brüssel zum Nachdenken veranlasst zu haben. Jedenfalls ist man wohl dabei, einen Pandemic Response Contingency Plan genannten Operationsplan auszuarbeiten, um sich gegen eine mögliche zweite Corona-Welle im Herbst zu wappnen. Man wolle halt Glaubwürdigkeit und Zusammenhalt innerhalb der Allianz wahren, so Generalsekretär Stoltenberg.

Auch wirtschaftlich könnte einiges auf das Bündnis zukommen. Lässt sich angesichts der anlaufenden Wirtschaftskrise das Ziel weiterer Erhöhungen der Militärausgaben halten? Aber die NATO-Oberen müssen sich auch die Frage gefallen lassen: Was nützen hochgerüstete Armeen gegen Pandemien? Vielmehr wird gerade jetzt offensichtlich, dass nicht zuletzt aufgrund aufgeblähter Militärbudgets Gelder für das Gesundheitswesen fehlen. Laut jüngster SIPRI-Zahlen gaben allein die USA 2019 weit über 700 Milliarden US-Dollar für militärische Zwecke aus, bekommen aber die Coronakrise nicht in den Griff: derzeit bereits mehr als eine Million vom Coronavirus Infizierte und 70.000 Tote, viel mehr als im Vietnamkrieg gefallene US-Soldaten. In seinem Tagesspiegel-Interview vom 3. Mai brachte es SPD-Fraktionsführer Rolf Mützenich auf den Punkt: „Weltweit werden fast zwei Billionen US-Dollar für Rüstung ausgegeben – brauchen wir in Corona-Zeiten nicht mindestens einen Teil davon für die Bekämpfung der Pandemie und den Wiederaufbau der Wirtschaft? Wer oder was ist gegenwärtig der reale Feind der Menschheit?“

Angesichts der Coronakrise scheint sich auch in den USA ein Umdenken anzubahnen. Was sei denn der Sinn riesiger Militärausgaben, wenn ein einziger Virus innerhalb weniger Wochen die ganze Wirtschaft lahmlegen könne, fragte Chris Murphy, demokratischer Senator aus Connecticut. Matthew Schmidt, Politologe an der Universität New Haven, forderte, die USA sollten die richtigen Prioritäten setzen und den Rest der Welt in puncto öffentlicher Verkehr, Bildung und Gesundheitsfürsorge einholen. Nun sei der richtige Moment dafür da. Allerdings kostete es Präsident Trump nur ein kaltes Lächeln, als er kürzlich selbstherrlich den Stop der US-Zahlungen an die Weltgesundheitsorganisation WHO verkündete. Im vergangenen Jahr steuerten die USA noch etwa 400 Millionen Dollar zur Finanzierung der Organisation bei, die eine außerordentlich wichtige Rolle bei der Bekämpfung von COVID-19 spielt.

Die Pandemie verdeutlicht die Verletzbarkeit unserer Welt. Um wie viel mehr gilt das für die potenziellen Gefahren eines Nuklearkrieges. Kein Staat oder internationales Organ könnte ausreichend reagieren auf den sofortigen humanitären Notfall oder die langfristigen Folgen der Detonation einer Kernwaffe, und auch nicht ausreichende Hilfe für die Betroffenen leisten. Es sei unwahrscheinlich, dass es jemals eine solche Kapazität geben werde. So jedenfalls eine Schlussfolgerung der Wiener Konferenz von 2014 über die humanitären Auswirkungen von Kernwaffen. Jahrzehnte lang hatten Konferenzen und Expertengruppen der Vereinten Nationen derartige Erklärungen abgegeben. Konkrete Folgen waren jedoch ausgeblieben. Unter Führung Österreichs und Mexikos verabschiedete jedoch 2017 die Mehrheit der UN-Mitgliedstaaten den Vertrag über das Verbot von Kernwaffen, den inzwischen 81 Staaten unterzeichneten, während die Kernwaffenmächte und ihre Verbündeten dazu nicht bereit sind. In einem am 16. April an Bundeskanzlerin Angela Merkel gerichteten offenen Brief wandten sich ICAN, IPPNW und weitere Nichtregierungsorganisationen gegen die atomare Aufrüstung Europas und forderten die Bundesregierung auf, sich dem Atomwaffenverbotsvertrag anzuschließen. Der Moment dürfe nicht verpasst werden, nun alle Anstrengungen auf globale Kooperation zu konzentrieren, denn nur so könne dem Virus, der nuklearen Bedrohung und anderen globalen Herausforderungen erfolgreich begegnet werden.