Er war so etwas wie das schlechte Gewissen der Deutschen. Wo auch immer versucht wurde, die Leichen der jüngeren Geschichte unter den Teppich zu kehren, zerrte er sie hervor. Begeisterung erregte er damit in beiden deutschen Staaten selten. Unterdrücken ließ sich seine Stimme seit dem Erfolgserstling „Der Stellvertreter“ – die Uraufführung am 20. Februar 1963 an der Freien Volksbühne in West-Berlin betreute kein Geringerer als Erwin Piscator – nicht. Den „Stellvertreter“ hatte der Geschäftsführer des Bertelsmann-Konzerns versucht zu blockieren. Erst zwei Jahre nach der Vorlage des Manuskriptes wurde das Stück vom Rowohlt-Verlag veröffentlicht. Auch die DDR – hier kam es ab 1966 auf die Bühnen – nahm es zunächst mit sehr spitzen Fingern auf; deren Zensurknechten war das Stück zu unsozialistisch. Im vereinigten Deutschland schließlich durfte sich der Autor noch 2007 (!) mit Vorwürfen, er habe mit kommunistischen Geheimdiensten zusammengearbeitet, auseinandersetzen.
Man legt sich nicht ungestraft mit dem Vatikan an. Die Glaubenskongregation hat immer noch ein sehr gutes Gedächtnis.
Die Rede ist von Rolf Hochhuth, der am 13. Mai 89-jährig in Berlin verstarb. In seiner Wohnung, in unmittelbarer Nähe zu Bundestag und Holocaust-Mahnmal. Beides wesentliche Punkte seiner schriftstellerischen Topografie. Ersteres nicht, weil er versuchte, um billiger Lorbeeren willen vor der Macht zu Kreuze zu kriechen. Er nahm „die Politik“, wie man sich dummdeutsch gerne auszudrücken pflegt, immer ernst und wusste, dass man Mehrheiten braucht, wenn man Richtiges nachhaltig durchsetzen will. Er scheute sich im Gegenteil nie, der Macht ins Kreuz zu treten, wenn er der Meinung war, sie ist gerade wieder einmal dabei, Freiheit und Menschlichkeit aus Opportunitätsgründen zu verraten und in die Spurrinnen der Vergangenheit zurückzugleiten. Die Filbinger-Affaire, die den ehemaligen NS-Marinerichter 1978 zum Rücktritt vom Amt des Ministerpräsidenten von Baden-Württemberg zwang, ist ein schönes Beispiel dafür. Auslöser war Hochhuths Erzählung „Eine Liebe in Deutschland“; verarbeitet hat er die Affaire ein Jahr später im Stück „Juristen“.
„Eine Liebe in Deutschland“ thematisiert den verbrecherischen Umgang unserer Vorfahren mit den Zwangsarbeitern, ohne deren massenhaften Einsatz der Krieg von deutscher Seite überhaupt nicht führbar gewesen wäre. Nach dem Erscheinen von Rolf Hochhuths Text dauerte es noch bis zum Jahr 2000, ehe sich Deutschland und die deutsche Wirtschaft zu ihrer Verantwortung bekannten. Letztere immer noch nicht voll umfänglich. Die Münchner Knorr-Bremse AG etwa weigert sich bis heute beharrlich, an ihrem Firmenstandort Berlin-Marzahn an die auf ihrem Firmengelände seinerzeit befindlichen mindestens zwei Zwangsarbeiterlager zu erinnern.
„Juristen“ erschien bei Rowohlt – und in der DDR bei Volk und Welt – zusammen mit Rolf Hochhuths Dankrede für den Basler Kunstpreis 1976. Die trägt den Titel „Tell 38“ und befasst sich mit der Frage der Legitimität des Tyrannenmordes. In West wie Ost eigentlich immer ein heikles Thema. Wilhelm Tell macht sich ja auf den Freilichtbühnen ganz nett, aber wer ihn ernst nimmt, muss sich zum Beispiel auch zu Georg Elser bekennen. Hochhuth tat das mit seiner Rede. Er brauchte bis 2008 – das sind über 30 Jahre! – um durchzusetzen, dass sich das Abgeordnetenhaus von Berlin hinter seinen Vorschlag stellte, dem Hitler-Attentäter in der ehemaligen Reichshauptstadt ein Denkmal zu setzen. Heraus kam schließlich ein ästhetisch eigentlich nur peinlich zu nennendes „Denkzeichen“ von Ulrich Klages. Aber der deutsche Tell ist in der Wilhelmstraße immerhin nicht mehr zu übersehen. Eigentlich hätte er als ewiges Warnzeichen auf die riesige Fläche zwischen Bundeskanzleramt und Reichstag gehört …
Auf diese Fläche wollte Rolf Hochhuth übrigens um das Jahr 2000 herum das Bismarck-Denkmal von Reinhold Begas wieder aufstellen lassen. Albert Speer hatte das 1938 an den Rand des „Großen Sterns“ im Tiergarten verbannt. Glücklicherweise scheiterte der Dichter mit dieser Idee.
Es wäre allerdings falsch, den Autor Hochhuth auf Historisches zu reduzieren. Er war immer ein sehr wacher Beobachter des Zeitgeschehens. 1993 kam der Paukenschlag: „Wessis in Weimar“ – mit dem unmissverständlichen Untertitel „Szenen aus einem besetzten Land“, 2004 das nicht minder umstrittene „McKinsey kommt“. Die „Wessis“ galten als unspielbar, bis Eimar Schleef gegen heftige Einwände des Autors das Stück am Berliner Ensemble (BE) 1993 zur Uraufführung brachte.
Hochhuths kleine Kriege gegen Regiearbeiten waren geradezu legendär. Als Claus Peymann 1988 den „Stellvertreter“ gegen den Widerstand klerikaler Kreise Österreichs am Burgtheater inszenierte, weigerte sich Hochhuth, erbost über Streichungen am Text, die Premiere zu besuchen. Das hinderte ihn aber nicht daran, sich später respektvoll über Peymanns Arbeit zu äußern.
Ernsthafter und bedauerlicherweise bis zur Grenze des Grotesken getrieben wurde beider Konflikt um das BE, das vom Senat 1999 an Peymann übergeben wurde. Rolf Hochhuth, der jahrelang versucht hatte, in Berlin eine Bühne führen zu können, die seine Auffassungen eines zeitgenössischen politischen Theaters hätte umsetzen sollen, war damit an einer inoffiziellen Einheitsfront konservativer und sozialdemokratischer Kreise gescheitert. Fast unbemerkt hatte inzwischen die von ihm gegründete Ilse-Holzapfel-Stiftung 1996 das BE-Theatergebäude am Schiffbauerdamm erworben. Die Berliner Kulturverwalter bekamen erst nach der Übertragung der Berliner Ensemble GmbH an Claus Peymann mit, wem das Theater nun eigentlich gehörte – nachdem Hochhuth gegenüber dem neuen Intendanten drastisch Mitspracherechte einforderte. Seitdem hatte er den Ruf eines permanenten Querulanten weg, was selbst die Nachrufe etlicher Medien durchzog.
Das ist ungerecht und sagt mehr über die Artikel-Schreiber als über Hochhuth selbst. Mit Rolf Hochhuth ging ein aufrechter Streiter um Vernunft und Menschlichkeit, ein unbeirrbarer Verkünder der Wahrheit. Und es ging ein unbestechlicher Feind der Veranstalter von Kriegen aller Art.
So einer macht sich leicht unbeliebt.
Das Fehlen seiner Stimme wird sich in der deutschen Literaturlandschaft sehr bald bemerkbar machen.
Schlagwörter: Der Stellvertreter, Rolf Hochhuth, Wolfgang Brauer