Das klappt, das klappt, das klappt kolossal“, poltert mein Freund Waleri, und er haut mir auf die Schulter – der Major der Sowjetarmee a.D. dem Deutschen. Waleri Prik kämpfte im Großen Vaterländischen Krieg, sein erster deutscher Satz war: „Ich garantiere Euch Euer Leben!“ Als Kulturoffizier half er nach dem Sieg nicht nur manchem Künstler im früheren Feindesland. Farbe zum Malen und Brot zum Überleben beschaffte er. Das Wort von „den Freunden“ war kein leeres, kein spöttisches, kein herablassendes oder „verordnetes“ Wort – es traf auf ihn einfach zu.
Von seiner Zeit in Berlin, Dresden, Erfurt oder Leipzig erzählte uns der Mann mit dem schwarzen buschigen Haar, den dichten Brauen und der hakigen Nase in Moskau auch Jahrzehnte später gern. Da war er längst wieder in Zivil. Ihm als Maler saßen Künstler des Bolschoi-Theaters Modell. Gegen Deutschland und die Deutschen hegte er nicht Hass noch Groll. Gegner waren damals die Faschisten. Das war etwas ganz anderes. Besucher aus der DDR waren für ihn wie für viele Sowjetbürger „наши“, unsere.
Mit Waleri auf den Sieg anzustoßen war freilich unmöglich. Nicht dass er es dem deutschen Freund verweigert hätte. Dessen Land trug Waleri nichts nach. Doch Wodka auf den Sieg? „Vor dem Sturmangriff gab es manchmal 100 Gramm, auch mehr. Doch wir waren müde und hungrig.“ Da habe er oft genug zuschauen müssen, wie Kampfgefährten in feindliches Feuer taumelten. „Ich wollte so nicht sterben.“ Zum 75. Jahrestag des Sieges hätte Major Waleri Prik, lebte er noch, ganz sicher die Uniformjacke mit den Orden angelegt.
Die Militärparade auf dem Roten Platz in Moskau steht noch aus. „Die Risiken der Epidemie sind noch außerordentlich groß“, räumte Präsident Wladimir Putin ein. Sämtliche Feiern des 9. Mai sind verschoben. Unter anderen Umständen als der Ausbreitung des Corona-Virus wäre schon der Gedanke als Blasphemie erschienen. „Der 9. Mai ist für uns heilig“, doch das Leben eines jeden Menschen sei von unschätzbarem Wert, erklärte Putin vor dem Sicherheitsrat.
Der Tag des Kriegsbeginns am 22. Juni 1941 wird im ganzen Land mit einer Schweigeminute begangen. Sie gilt auch Tanja Sawitschewa. Die 14-Jährige führte ein Tagebuch der Belagerung Leningrads von September 1941 bis Januar 1944 durch die deutsche Wehrmacht: „Schenja ist am 28. Dezember 1941 um 12 Uhr gestorben. Onkel Ljoscha am 10. Mai 42 um vier Uhr am Nachmittag; Mama, Oma, Onkel Wasja, Ljoka: Alle tot. Die Sawitschews sind tot. Alle sind tot. Nur Tanja lebt noch.“ Tanja starb im Sommer 1944, blind und vollständig gelähmt.
Der Raub- und Vernichtungskrieg begann im Jahre 1941 mit dem deutschen Überfall. „Führer befiehl! Wir folgen Dir!“ – laut dem Nazi-Chefpropagandisten Joseph Goebbels „ein großartiges Lied“. Im Rundfunk dann ergänzt mit dem Zitat aus „Les Preludes“ von Franz Liszt – das wurde die „Russlandfanfare“. Das „Unternehmen Barbarossa“ war Terror, Mord und Ausrottung des „jüdischen Bolschewismus“ und „slawischer Untermenschen“, war Eroberung von „Lebensraum im Osten“. Öl und Eisen lockten, die Kornkammern des Ostens.
27 Millionen Tote kostete der Zweite Weltkrieg die Sowjetunion, davon etwa die Hälfte Zivilisten. Bei den patriotischen Märschen des „Unsterblichen Regiments“ mit Millionen Teilnehmern in Russland und vielen weiteren Ländern bestätigt sich, dass keine Familie ohne Opfer blieb. Sei es beim Morden der Zivilbevölkerung und der Kriegsgefangenen durch die faschistischen Gegner, an den Fronten, bei kriegsentscheidenden Schlachten wie um Stalingrad oder im Kursker Bogen.
Im sowjetischen Hinterland wütete stalinscher Terror. Der Geheimdienst und Denunzianten machten Jagd auf vorgebliche Volksfeinde, Spione und Deserteure, belieferten den GULAG mit Zwangsarbeitern. Wenn Demonstranten mit dem „Unsterblichen Regiment“ mit Fotos ihrer Angehörigen gedenken, möchte mancher nicht mitgehen. Er könnte auf das Andenken an Täter treffen, die für Opfer in der eigenen Familie verantwortlich sind.
Im Stolz auf den Sieg über den Faschismus bleibt man sich in Russland aber einig. Es herrscht Unverständnis und Empörung, dass die Sowjetunion beschuldigt wird, für den Ausbruch des Zweiten Weltkrieges ebenso wie Nazi-Deutschland verantwortlich zu sein. Solche Unterstellung nennt Walentina Matwijenko, Vorsitzende des Föderationsrates, schlicht „verbrecherisch“. Dabei gibt das EU-Parlament mit seiner Entschließung vom 19. September 2019 die Richtung vor. Unter Hinweis auf den Ribbentropp-Molotow-Nichtangriffspakt und dessen Protokolle zur Aufteilung Polens zwischen Nazideutschland und der Sowjetunion von 1939 beschuldigt es die „beiden gleichermaßen das Ziel der Welteroberung verfolgenden totalitären Regime“ auch noch der „Verfälschung historischer Tatsachen über die Ursachen, den Verlauf und die Folgen des Zweiten Weltkriegs“.
Damit wird der frühere Bundespräsident Richard von Weizsäcker nachträglich als Ketzer ausgetrieben. Denn er erkannte in seiner berühmten Rede vom 8. Mai 1985, dass mit dem Pakt von Berlin und Moskau „die deutsche Schuld am Ausbruch des Zweiten Weltkrieges nicht verringert“ werde. Die Initiative zum Krieg „ging von Deutschland aus, nicht von der Sowjetunion. Es war Hitler, der zur Gewalt griff. Der Ausbruch des Zweiten Weltkrieges bleibt mit dem deutschen Namen verbunden.“ Vergeblich und sinnlos hätten die meisten Deutschen “den unmenschlichen Zielen einer verbrecherischen Führung gedient“.
Die „schlimme Botschaft“ der EU hingegen setze als „Text grober ideologischer Propaganda, wie er aus der schlimmsten Zeit des Kalten Krieges“ in Erinnerung sei, die Unterdrücker und Unterdrückten, Opfer und Schlächter, Eindringlinge und Befreier gleich“, antwortet die Internationale Föderation der Widerstandskämpfer (FIR) – Bund der Antifaschisten. Russlands Präsident sagt: „Unsere Antwort auf die Lüge – das ist die Wahrheit.“ So werde man berichten „über die Siege und Niederlagen der Roten Armee, über das tragische Schicksal der Kriegsgefangenen, über den Mut der Kämpfer im Untergrund und die Schande der Kollaborateure, über die Tragödie des Holocaust und die Verbrechen gegen friedliche Einwohner, über die Exzesse der Nationalisten – der Komplizen Hitlers“.
Allein schon seine Charakterisierung des polnischen Botschafters in Berlin in den Jahren 1933 bis 1939, Jozef Lipski, als „Drecksack, antisemitisches Schwein“ sorgte in Warschau für Empörung und die Ankündigung einer Geschichtslektion. Offenbar unwiderlegt blieb jedoch Putins Darstellung, der Diplomat habe Hitler „versprochen, ihm für die Verhöhnung des jüdischen Volkes ein Denkmal zu errichten“. Damit nicht genug, erinnerte Moskau an das Münchner Abkommen von 1938 und die Beteiligung Polens an der Aufteilung der Tschechoslowakei. Heißt solches nun, der Wahrheit die Ehre zu geben oder die Büchse der Pandora zu öffnen?
Eine „Schlacht um die Deutungshoheit“ beklagt die rumänische konservative Wochenzeitung Revista 22. Heute werde das Gedenken an den Weltkrieg vor allem in Mittelosteuropa dazu genutzt, sich selbst als besser darzustellen, als man war, bemängelt der Historiker Mădălin Hodor. Ein „Unwürdiges Fingerhakeln über den Gräbern“ kritisiert Šimon Krbec vom Studienzentrum des Genozids Terezín (Theresienstadt). In Europa mache sich eine gefährliche Tendenz der selektiven Wahrnehmung der Geschichte breit.
Die UdSSR, deren rechtlicher Nachfolger Russland sei, ist „der Aggressor, der sich heimlich mit Hitler über die Teilung Polens einigte“, bleibt die lettische Tageszeitung Latvijas Avize sicher. Natürlich sei „auch Deutschland ein Aggressor“, räumt das Blatt gerade noch ein. Doch habe das „seine Taten schon hundert Mal bereut“. In der westlichen Geschichtsschreibung scheinen die Siegermächte nach dieser Logik ohnehin immer mehr nach der Formel 3+1 zusammengesetzt zu sein: drei Alliierte plus Deutschland minus Russland.
Vor allzu einfacher Darstellung warnt Konstantin Sonin in dem Radiosender Echo Moskwy. Es sei unwahr, wenn ein Vertreter des russischen Außenministeriums sage, Russland habe Polen nicht überfallen und war nicht an der Vernichtung seiner Staatlichkeit beteiligt. „Russland war Aggressor gegenüber Polen, aber Russland war auch Opfer der deutschen Aggression, mit der der Weltkrieg begann.“ Immerhin versichert die britische Times: „Niemand bestreitet die Opfer der Sowjetunion nach der Invasion von 1941 oder das Heldentum der Roten Armee, das zur Befreiung der meisten Todeslager führte.“
Der Londoner Guardian beklagt sogar Untätigkeit der „wichtigsten Institutionen in Washington und London“ angesichts des Holocaust. Obwohl sie „mit schlagenden Beweisen für den sich abzeichnenden Genozid konfrontiert wurden“, hätten sie „eine Intervention nicht als Priorität“ angesehen. „Vielleicht lag es am Antisemitismus unter wichtigen Funktionsträgern, vielleicht war es ihnen schlicht nicht wichtig genug, vielleicht gaben sie anderen militärischen und diplomatischen Problemen den Vorrang.“
Wann es auch immer zu den Feierlichkeiten kommen mag, Wladimir Putin dürfte dabei bleiben: „ Für unsere früheren Verbündeten in der Antihitlerkoalition wäre es im innenpolitischen und moralischen Sinne richtig, zu uns zu kommen.“ Da ist mit ihm Michail Gorbatschow, letzter Präsident der Sowjetunion, eines Sinnes. Die Absage wäre eine vertane Chance, meinte er in der Nowaja Gasjeta. „Der Westen gibt Russland an allem die Schuld und Russland wiederum dem Westen. Kampfflugzeuge nähern sich immer öfter fremden Grenzen, Schiffe kommen einander gefährlich nahe, mit Raketen wurden mehrmals Zivilflugzeuge abgeschossen.“ Die Virus-Pandemie überzeuge erneut davon, „wie zerbrechlich die globale Welt ist und wie groß die Gefahr ist, im Chaos zu versinken“.
Die Siegesfeierlichkeiten sollen unbedingt „in diesem Jahr“ stattfinden. Die Parade und der Marsch des „Unsterblichen Regiments“ könnten auf den 24. Juni als Tag der Siegesparade von 1945 verlegt werden. Ein mögliches Datum wäre der 7. November. An diesem Tag fand im Jahre 1941 jene Parade statt, deren Teilnehmer direkt an die Front vor der sowjetischen Hauptstadt gingen. An der Stadtgrenze erinnert auf dem Weg vom Flughafen Scheremetjewo ins Zentrum eine riesige Panzersperre daran, wo der faschistische Vormarsch gestoppt wurde.
C праздником победы! Glückwunsch zum Tag des Sieges!
Schlagwörter: Deutungshoheit, Großer Vaterländischer Krieg, Klaus Joachim Herrmann, Russland, Siegesfeierlichkeiten, Sowjetunion, Tag des Sieges