Die Wiener U-Bahnen sind fast menschenleer, verkehren aber regelmäßig. Betreten darf sie nur, wer zur unbedingt notwendigen Arbeit fährt und maskiert ist. Mund- und Nasenschutz sind auch für den Einkauf im Supermarkt erforderlich, nachdem die Regierung dies vor wenigen Tagen – ohne parlamentarische Debatte – beschlossen hat. Für die Ausgabe von Masken, so Kanzler Sebastian Kurz, müssen die Lebensmittelketten sorgen und sie gratis an die Kunden verteilen. Seither verlangt die Rewe-Tochter „Billa“ am Eingang jedes Geschäfts drei Euro für drei Masken im Kombipack. Wenn Verordnung auf Wirklichkeit trifft, behält das Geschäft eben die Oberhand.
Seit die Regierung Kurz am 15. März 2020 die Schließung des öffentlichen Raumes dekretiert hat, steht das Leben in Österreich – wie in anderen Ländern – still. Die eigenen vier Wände darf man nur verlassen, wenn man Lebensmittel oder Medikamente einkauft, zur unaufschiebbaren Arbeit außer Haus muss, sich die Füße vertritt oder medizinische Hilfe leistet. Bis Ostern bleiben alle Geschäfte geschlossen, die nichts Lebensnotwendiges verkaufen. Ab 14. April sollen kleine Läden und große Bau- und Gartenmärkte öffnen können, aber nur Kunden mit Masken und nur eine Person pro 20 Quadratmeter betreuen dürfen. Spaziergänge sind entweder alleine oder mit jenen Personen erlaubt, die im selben Haushalt wohnen. Dabei ist strikt darauf zu achten, einen Meter Abstand zu allen anderen zu halten. Da in Wien große Gartenanlagen auf Befehl der Bundesregierung geschlossen sind und man mit öffentlichen Verkehrsmitteln nur zur Arbeit und nicht an den Stadtrand fahren darf, drängen sich an schönen Tagen viele Menschen in kleinen Parks und in den Prater-Auen. Die Polizei ist allgegenwärtig, es hagelt Anzeigen, an einzelnen Sonnentagen weit über 1000. Bis vor Ostern wurden 20.000 Menschen mit Strafen von je 300 bis 500 Euro belegt, die meisten davon, weil sie den Abstand von einem Meter zum Nächsten nicht eingehalten hatten.
Mittlerweile hat die Volksanwaltschaft bereits die „übertriebene Härte“ bei den Straffestsetzungen beklagt. So ist der Fall einer Familie bekannt geworden, die mit ihren Kindern auf einem gesperrten Spielplatz angetroffen wurde und dafür eine Geldstrafe von 1000 Euro ausfasste. Auch einsam auf Parkbänken lesende Menschen ereilte die Willkür polizeilicher Maßnahmen, was nicht verwundern darf, wenn der Exekutive entsprechende Vollmachten eingeräumt werden.
Ab 4. Mai werden 3000 Soldaten die Exekutive „sicherheitspolizeilich“ unterstützen. Es ist die erste Teilmobilmachung des österreichischen Bundesheeres in seiner 65-jährigen Geschichte. Schon in den vergangenen Wochen waren Soldaten in die Hochregallager der Supermärkte abkommandiert worden, um dort beim Nachfüllen der Waren zu helfen.
Mit dem Auftauchen der ersten Corona-Krankheitsfälle richtete die Regierung zusammen mit Hilfsorganisationen wie dem Roten Kreuz eine telefonische Hotline ein und beschwor alle Österreicher, bei möglichen Symptomen ja nicht ins Spital oder zu niedergelassenen Ärzten zu gehen. Stattdessen sei die Hotline anzurufen, die sogleich zusammenbrach. Dennoch war diese Maßnahme das Beste im seit Wochen dauernden Krisenmanagement und verhinderte möglicherweise Zustände wie in Italien. Die Spitäler blieben bis auf wenige Ausnahmen von Ansteckungswellen verschont und erkrankte Menschen wurden zu Hause von mobilen Ärzteteams aufgesucht und isoliert. Es konnte zwar drei, vier Tage dauern, bis ein Mediziner vorbeikam, machte sich aber im vergleichsweise langsamen Anstieg der sogenannten Fallzahlen bezahlt. Mit Stand vom 8. April gab es in Österreich etwas mehr als 12.000 positiv auf das Virus Getestete und 273 Todesfälle; bei einer Bevölkerungszahl von knapp 9 Millionen. Die in jeder Nachrichtensendung ausführlich besprochene Kurve der positiv Getesteten flacht ab.
Das Bild kennt jeder österreichische TV-Konsument bis zum Überdruss: Fast täglich rücken vier Männer, zuletzt immer maskiert, in den mit den Fahnen der Republik Österreich und der EU ausgestatteten Presseraum des Kanzleramts ein. Hinter vier Glaswänden nehmen sie an Rednerpulten Aufstellung: Gesundheitsminister Rudolf Anschober (Grüne), Kanzler Sebastian Kurz (ÖVP), Vizekanzler Werner Kogler (Grüne) und Innenminister Karl Nehammer (ÖVP). Das Viergestirn verkündet Erlasse und Verordnungen in perfekt einstudierter Rollenverteilung. Der grüne Gesundheitsminister, ausgebildeter Volksschullehrer ohne medizinische Vorbildung, referiert die jeweils neuesten Erkenntnisse seines Beraterteams aus Virologen, Pulmologen und Pharmakologen über den Stand von Infektionen, aus denen Mathematiker die Zukunft vorhersagen. Der Innenminister mahnt zur Disziplin und brandmarkt jene, die sich nicht an die zahlreichen Verbote halten, als „Lebensgefährder“. Sie seien „dafür verantwortlich, ob Menschen überleben oder Menschen sterben“. Unwillkürlich fällt einem dabei das Unwort vom „Volksschädling“ aus dem dunkelsten Kapitel unserer Geschichte ein.
Der grüne Vizekanzler steht im medialen Abseits und hat wenig mehr zu reden als ein Praktikant. Nur fallweise kehrt er den autoritären Staatsmann hervor, wenn er sich beispielsweise darüber exaltiert, dass zwei Bergwanderer in den Alpen abgestürzt sind und damit einen Rettungseinsatz provoziert haben. So was ginge gar nicht, dass jemand auf den Berg steigt und einen ärztlichen Einsatz auslöst, der im Kampf gegen Corona dringend gebraucht würde. Seither sperren Polizisten Parkplätze rund um beliebte Wanderwege ab, damit sich niemand in freier Luft vergnüge und einem Unfallrisiko aussetze.
Am Ende der Pressekonferenz fällt Kanzler Kurz die Rolle des Verkünders neuer Maßnahmen und das Schlusswort zu. Dabei scheut er nicht vor religiösen Floskeln zurück wie zuletzt bei der Ankündigung einer Öffnung kleiner Geschäftslokale nach Ostern, die er mit der schrittweisen „Auferstehung“ des gesellschaftlichen Lebens verglich.
Die Regierung gibt die – repressiven – Maßnahmen vor, die Opposition stimmt zu. Widerrede gibt es kaum. Das liegt auch daran, dass sich die Parteichefin der Sozialdemokratie, Pamela Rendi-Wagner, als ausgebildete Tropenärztin völlig auf den medizinischen Aspekt der Krise stürzt und gesellschaftliche Fragen hintanstellt. Ihr Credo lautet: testen, testen, testen; damit rennt sie bei der Regierung offene Türen ein, scheitert jedoch an den technischen Möglichkeiten. Einzig die kleine liberale Partei Neos beginnt, einen geplanten nächsten Einschnitt, nämlich das Tracking der Menschen via Handy-App, zu kritisieren. Eine solche „Corona-Stopp“-App wurde vom Roten Kreuz entwickelt und soll die persönlichen Kontakte aller Menschen aufzeichnen, um die Infektionsketten verfolgen zu können. Vorerst ist sie anonymisiert und freiwillig, aber hochrangige ÖVP-Politiker denken laut über eine Verpflichtung nach. Chinesische Verhältnisse sind ihnen ein Vorbild. Eine erste Umfrage zur verpflichtenden Ortung jeder menschlichen Bewegung hat ergeben, dass fast die Hälfte der Befragten dafür wäre.
Heftige Kritik an den türkis-grünen Maßnahmenpaketen kommt in erster Linie von angesehenen Juristen. Sie werfen der Regierung vor, im parlamentarischen Notverfahren die Verfassung auszuhebeln und via Verordnungen und Ermächtigungen zu agieren, die verfassungswidrig sind. Manfred Matzka, langjähriger Kabinettschef im Innenministerium, verglich in einem Kommentar die Vorgehensweise der Regierung mit dem kriegswirtschaftlichen Ermächtigungsgesetz des Jahres 1917 und meinte, dass „Ermächtigungsgesetze ein gefährliches Potenzial haben, das unter bestimmten Bedingungen so exponentiell ansteigen kann wie eine Infektion“. Er warnte vor der Flut von „aberwitzigen Sammelgesetzen, die 42 Novellen und 92 Artikel enthielten, welche niemand mehr, auch kein Parlamentarier, überblicken“ kann. Gemeinsam mit anderen Juristen wie dem früheren Nationalratsabgeordneten Alfred Noll weist er auch auf konkrete Gesetzwidrigkeiten der Regierung hin. So wurde aus dem ursprünglich parlamentarisch verabschiedeten Gesetz, dass es ein „Betretungsverbot für bestimmte Orte“ geben solle, ein Betretungsverbot für den gesamten öffentlichen Raum mit einigen, oben erwähnten Ausnahmen.
Langsam aber stetig wird der Unmut auch in der Bevölkerung größer und die Debatte über die Verhältnismäßigkeit der restriktiven Maßnahmen nimmt Schwung auf. Auch deshalb, weil in den vergangenen Wochen die Arbeitslosenzahlen in Österreich dramatisch von 360.000 auf 560.000 gestiegen sind; das ist der höchste Wert seit dem Zweiten Weltkrieg. Dazu gibt es noch 300.000 Beschäftigte in Kurzarbeit. Die existenziellen Sorgen nehmen zu. Die Regierung verspricht Milliardenpakete für alle und jeden, wissend, dass das Geld nicht vorhanden und irgendwo eingetrieben werden muss. Ausgangssperren und Kontaktverbote verlagern den Protest – vorläufig – in den virtuellen Raum. Irgendwann sollte er auch den physischen Raum erobern, bevor sich der Kampf gegen das Virus als Instrument zur Herstellung einer autoritären Herrschaftsform entpuppt.
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