23. Jahrgang | Nummer 8 | 13. April 2020

Eine Badereise um 1880

von Dieter Naumann

Ein „Handbuch für den Verkehr in der Familie, in der Gesellschaft und im öffentlichen Leben“, herausgegeben von Franz Ebhardt, erschien 1878 unter dem Titel „Der gute Ton in allen Lebenslagen“ in dritter Auflage in Berlin. Die Abschnitte „In Sommerwohnung und im Bade“ und „Auf der Reise“ lassen ahnen, welchen Verhaltensregeln vor allem Damen zu jener Zeit bei einer Badereise unterworfen waren.

Unvorbereitet zu reisen, könne sich empfindlich rächen, heißt es einführend. Insbesondere wer auf Geld und Zeit achten müsse, solle „mit Hülfe eines Coursbuches“ einen festen Reiseplan entwerfen und sich unterrichten, wie er diesen durchführen kann. Nicht gleichgültig sei die Ausrüstung, wobei gelte: „Beschwere Dich so wenig wie möglich mit Ballast.“ Empfohlen wurden: ein vollständiger Anzug in staubgrauer Farbe, eine Reisemütze statt des Hutes (der für den Verkehr in Gesellschaft im Futteral mitgenommen werde), ein Plaid, das als Mantel, Schlafdecke oder auch Ersatz für den vergessenen Regenschirm dienen könne, das Allernotwendigste an Wäsche („etwa sechs Hemden, wollene Unterkleider, zwölf Taschentücher, sechs Paar Strümpfe, die nothwendigen Kragen und Manschetten, ein Gesellschaftsanzug, ein Paar Reservestiefel, Kämme und Bürsten. Außerdem regte das Handbuch an, Schreibutensilien sowie eine kleine Reisetasche zum Umhängen für das „Nothwendigste an Geld, Reisebuch, Fernglas, Imbiß und andere Kleinigkeiten“ mitzunehmen. Man solle sich jedoch hüten, die gesamte Barschaft in diese Tasche zu stecken, da „Verlorengehen und Gestohlenwerden […] sehr naheliegende Möglichkeiten“ seien.

Für eine Dame erfordere die Reise etwas mehr Umstände, jedoch solle auch sie auf die „Begleitung von so und so vielen Kistchen und Schachteln“ verzichten. Zwar müsse sie sich mit Toilette und Wäsche reichlicher als die Herren versorgen, jedoch sei in jedem guten Gasthaus ein Waschhaus zu finden. Das Kleid solle im Sommer am besten in widerstandsfähiger roher Seide oder Leinen gewählt werden, ein langer Schleier, grün oder blau (weiß oder schwarz sei weniger zu empfehlen), könne nötigenfalls auch den Hals einhüllen. Ansonsten müsse jede Frau selbst wissen, was für ihre Bedürfnisse unerlässlich erscheine.

Während der Reise hätten die allgemeinen Gesetze des guten Tones Gültigkeit. So würde natürlich jeder Herr mitreisenden Damen oder bejahrten Personen zuvorkommend begegnen, etwa bei der Platzwahl oder beim Rauchen im Eisenbahnwaggon. Hier könne man durchaus ein Gespräch anfangen, allerdings solle man weder den Mitreisenden mit den „eigenpersönlichen“ Verhältnissen behelligen, noch seinerseits danach ausforschen. Während der Fahrt sei die Stärkung mit einem Imbiss möglich, wobei Speisen von unangenehmem Geruch zu vermeiden wären. Sähe man einem Mitreisenden „den sehnlichen Wunsch (an), unser Thun nachzuahmen“, ihm fehle es aber augenscheinlich am Nötigsten, sei es nicht unschicklich, ihn vom eigenen Vorrat etwas anzubieten; nur ein ungebildeter Mensch würde sich dadurch verletzt fühlen.

Auch der Verkehr in den Gasthöfen unterliege der allgemeinen gesellschaftlichen Form des guten Tones; in jedem Falle bemühe man sich, keinen Fremden in irgendeiner Weise zu belästigen. Laute Geräusche und Türenknallen verböten sich bei später An- oder früher Abreise. Man vermeide in den Zimmern lautes Sprechen über Familien- oder Geschäftsverhältnisse, da man nicht wisse, ob das Gehörte durch Fremde zum eigenen Schaden benutzt werden könnte. Morgens im Cafesalon begrüße man „leichthin“ die Anwesenden, nehme dann aber sein Frühstück ein, ohne sich weiter um „Dieselben“ zu kümmern. Auf der Treppe oder in Gängen grüße man höflich und lasse einer entgegenkommenden Dame die Seite der Rampe frei.

Junge Mädchen sollten die gemeinschaftlichen Räume des Gasthofes nur in Begleitung ihrer Mutter oder einer Vertrauensperson betreten und beim Table d´hôte zwischen den Eltern sitzen. Sei das nicht möglich, hätten sie Aufmerksamkeiten eines fremden Tischnachbarn, wie Darreichen einer Schüssel oder Eingießen von Wasser, artig anzunehmen, sich höflich zu bedanken, ohne sich auf eine weitere Unterhaltung einzulassen.

Wer unbehelligt, schnell und gut bedient werden wolle, behandle das diensttuende Personal freundlich und zuvorkommend. „Man lasse lieber Fünf gerade sein, als daß man sich in Auseinandersetzungen oder Beschwerden einlasse“, die nur Unannehmlichkeiten und Verdrießlichkeiten zur Folge hätten.

Angekommen böte das Badeleben für den Verkehr jede Menge Freiheiten, die sonst in der Gesellschaft nicht gestattet wären. „Die Menschen kommen einander viel schneller näher, setzen sich über all die Formen, die sonst mit dem Anknüpfen von Bekanntschaften unvermeidlich verbunden sind, viel schneller hinweg.“ Da wären zunächst die Badegäste, die der Gesundheit wegen kämen. „Und gerade dieser Theil setzt sich aus so widerstrebenden und verschiedenartigen Elementen zusammen“, dass selten eine dauerhafte Bekanntschaft entstünde. Andere reisten ins Bad, nur um Abwechslung in ihr Leben zu bringen. Sie suchten in der Ungebundenheit des Badelebens Zerstreuung, die sie sonst auch andernorts gesucht hätten. Häufig würden Badereisen unternommen in der Hoffnung, erwachsenen Töchtern „zu einer Zukunft zu verhelfen“. Und in der Tat böte das Bad „weitere Aussichten und Zufälligkeiten, als irgend welches andere Verhältnis in der Gesellschaft“. Darin läge allerdings auch eine große Gefahr. „Die Hoffnungen werden gar nicht so selten von einem Erfolge gekrönt, der Entsetzen und unsägliches Elend über die Familie bringt […]“, da die Badesaison auch der Sammelpunkt von Glücksrittern und Abenteurern sei, die „einen Goldfisch in ihr Netz zu locken streben“. Hinter manchem Herrn Baron und Grafen stecke ein „einfacher Ritter von der Elle“, hinter mancher fürstlichen Damentoilette „seufzen Unsummen unbezahlter Schneiderrechnungen“. Doppelte Vorsicht werde Damen empfohlen, die sich ohne Herrenbegleitung im Badeort befänden, weil Gemahl oder Bruder erst später oder gar nicht kommen könne. Die geringste Auffälligkeit in ihrem Wesen und Tun könne „Veranlassung zu allerlei Bemerkung“ geben; Begegnungen auf der Promenade könnten dann schon „förmliche Vergehungen gegen den guten Ton (sein), einsame Spaziergänge werden zum Verbrechen“.

Jede Dame solle sich beim Table d´hôte entweder einen Platz reservieren lassen oder von vornherein auf ihrem Zimmer speisen. Konzerte im Kursaal, Wohltätigkeitsveranstaltungen oder das Lesezimmer könne sie, ohne gegen den Anstand zu verstoßen, allein besuchen. Dagegen müsse allein reisenden Damen vom Besuch des Casinos, von Bällen und dergleichen abgeraten werden. Für den Ball selbst gelte, dass Herren, die einer Dame nicht vorgestellt sind, die Bewilligung eines Tanzes nicht erwarten dürften. „[…] bei Offizieren würde dies weniger streng zu nehmen sein, weil die Uniform die Annahme gestattet, daß man es mit einem Herren der feinen Gesellschaft zu thun hat.“ Für die Herren gelte die Regel, eine Dame nicht öfter als zweimal an einem Abend aufzufordern.

Auf der Promenade oder im Kurgarten dürfe eine Dame die Begleitung eines ihr bekannten Herrn annehmen, „doch muß sie sehen, daß dies nicht auf weiteren Spaziergängen geschieht“; dagegen seien Ausflüge nur in Begleitung eines Herren „nicht rathsam“. Überhaupt habe eine Dame „alles Auffallende in Wesen, Kleidung, Sprache […] zu vermeiden“ und sich zu verhalten, als wäre sie in Begleitung ihres Gatten oder sonstigen Beschützers.

Von schnellen Bekanntschaften mit Stubennachbarn sei abzuraten, „da häufig Personen von zweideutigem Rufe die Guthmüthigkeit Anderer mißbrauchen […] und die Bekanntschaft auf alle denkbare Weise zu ihrem Vortheil auszunutzen suchen. Verluste an Geld sind in solchem Falle noch am Leichtesten zu verschmerzen“.

Abschließend heißt es im Handbuch zum Badeaufenthalt: „Man kann in den meisten Fällen annehmen, daß Badebekanntschaften nur für die Dauer des Aufenthaltes im Bade geschlossen werden, daß sie unter Umständen bei späterem Begegnen in der Gesellschaft als nicht vorhanden betrachtet werden, und diese Auffassung, die nichts Anstößiges hat, kann und wird Vieles mildern und erleichtern.“