Die weltweite Corona-Pandemie lenkt den Blick des Historikers zurück in die Jahre 1348 bis 1350, die Zeit einer Pestwelle, die große Teile Europas heimsuchte der und mutmaßlich bis zu ein Drittel der damaligen Bevölkerung zum Opfer fiel. Zu erinnern ist an eine weitere überaus schreckliche Folge der Pest: die sprunghafte Zunahme einer mörderischen Judenfeindschaft.
Die größte Pogromwelle des Spätmittelalters vernichtete damals fast alle jüdischen Siedlungen in Mitteleuropa mit Ausnahme von Teilen Böhmens, Österreichs und der Reichsstadt Regensburg, wo christliche Bürger Solidarität zeigten. Als Vorwand der Massenmorde diente die Vergiftung der Brunnen und Quellen durch Juden und ihre christlichen Helfershelfer. Diese seien, so wurde es von Tausenden von Kanzeln herab verkündet, die böswilligen Urheber der Pest.
Obwohl die Beschuldigung der Brunnenvergiftung älter war, erreichte sie in den Jahren ab 1348 ihren Tief- wenn auch nicht Endpunkt. Doch waren die Pogrome, wie der tschechische Historiker František Graus (1921–1989) nachweisen konnte, keine spontanen Aktionen des „Pöbels“ oder des niederen Klerus; sie waren vielmehr von dynastischen Herrschern und ihren geistlichen wie patrizischen Helfern sorgsam vorbereitet: So hatten vor dem Pogrom in Prag am 5. Dezember 1349 Kaiser Karl IV. und der patrizische Rat der Stadt ausgiebige Listen der zu Ermordenden angelegt. In Meißen und Nordhausen wurden die Juden auf direkten Befehl von Friedrich II., Landgraf von Thüringen und Markgraf von Meißen, umgebracht. Gleiches geschah in der Neumark auf Befehl von Ludwig dem I. (dem Älteren), Markgraf von Brandenburg.
Einige Herrscher wie Herzog Albrecht II. von Österreich und der polnische König Kasimir III. suchten Juden Schutz zu gewähren. Papst Clemens VI. wandte sich gegen die Hinrichtung von Juden ohne Gerichtsverfahren. Er erklärte, die Pest treffe ganz offensichtlich auch die Juden. Andere Fürsten und Geistliche hielten sich zurück, ohne aber den Pogromisten in den Arm zu fallen.
Mit der Ausnahme von Mainz waren die Pogrome in keiner deutschen Stadt Ergebnis eines spontan handelnden Mobs, sondern präzise geplant. Dabei zeigten bereits gebildete und human denkende Zeitgenossen wie der französische Arzt Chalin de Vinario oder der Chronist Konrad von Megenberg die Unsinnigkeit der Verleumdung.
Die organisierte Gewalt gegen Juden übertraf alles bisher Bekannte, und sie wurde nicht länger primär durch theologische Pseudo-Argumente „begründet“: Bis dahin wurden Gewalttätigkeiten hauptsächlich mit der Weigerung der Juden, sich taufen zu lassen, „gerechtfertigt“. Das Schauermärchen vom Ritualmord der Juden an Christen und die (logisch zudem unsinnige) angebliche Hostienschändung hatten den Judenhass verstärkt.
Doch seit 1348 traten diese Deutungen, ohne zu verschwinden, hinter die Mär von der Brunnenvergiftung zurück. Eine Erklärung dafür fanden Forscher in dem, was der Wirtschaftshistoriker Wilhelm Roscher 1875 als „Geldkrise barbarischer Art“ bezeichnete: Die Ermordung jüdischer Gläubiger war eine überaus grausame Art der Schuldentilgung. Roschers Zeitgenosse Emil Werunsky wies zudem in seiner Biographie Kaiser Karls IV. 1882 auf die sozialen Spannungen zwischen Zünften und Patriziern in vielen Städten hin. Juden galten als Verbündete der Patrizier gegen die rebellierenden Zünfte, wurden jedoch fast zu alleinigen, vom Patriziat kaltblütig fallen gelassenen Opfern. Die Patrizier verloren, und dies nur zum Teil, lediglich ihre politisch bevorrechtigte Stellung. Modern gesprochen, zeigt sich hier der Gegensatz zwischen Pauperismus und Frühkapitalismus, der in die Suche nach Sündenböcken abgeleitet wurde und damit seine gesellschaftliche Sprengkraft weitgehend verlor.
Die Ansicht von den Juden als Verbündeten des Patriziats, obwohl keineswegs ganz falsch, hat sich in der heutigen Forschung jedoch so absolut nicht erhalten. Richtig ist hingegen, dass die Judenpogrome die weitestgehende Verdrängung der überlebenden Juden aus dem städtischen Wirtschaftskreislauf zur Folge hatten. Sie wurden auf Kleinstkredit und Trödelhandel beschränkt, oft waren sie zu tiefster Armut verurteilt. Ihre osteuropäische Entsprechung fanden die Verfolgungen in den gleichzeitigen Massenpogromen in der Ukraine unter Bogdan Chmelnitzkij während des Aufstandes der Kosaken gegen die polnische Krone.
Doch waren antijüdische Pogrome nur eine schreckliche Seite der gesellschaftlichen Entwicklung. Im Gefolge der Pest stieg die Anzahl der Hexenprozesse sprunghaft an. Allgemein grenzten sich die vermögenden Schichten nun immer stärker von den Armen ab, denen sie alle Ursache an Seuchen und überhaupt Krankheiten zuschrieben. Die Armenfürsorge wurde, wie der polnische Historiker Bronisław Geremek (1932–2008) belegte, vom Akt der Barmherzigkeit zum Bestandteil sozialer Sanktionen. An der massenhaften Verfolgung und Ermordung der Juden zeigt sich das janusköpfige Gesicht einer von tiefen sozialen Gegensätzen zerrissenen Übergangszeit vom Mittelalter zur Frühmoderne mit ihrem Hang zu Verschwörungstheorien und ihrer Jagd nach Sündenböcken.
Die schreckliche Verlängerung der Tragödie kann an den Biographien der beiden Historiker František Graus und Bronisław Geremek abgelesen werden: Beide überlebten den Holocaust, dem jedoch ihre Familien zum Opfer fielen. Beide engagierten sich nach dem Zweiten Weltkrieg in den kommunistischen Parteien ihrer Heimatländer. Ihr radikal-humaner Sozialismus erwies sich jedoch mit dem Stalinismus als unvereinbar. So wurden beide zur Zielscheibe engstirniger, auch antisemitischer Schikanen. Graus emigrierte und lehrte an den Universitäten Gießen und Basel. Geremek wurde vom Bürgerrechtler zum Außenminister der polnischen Republik. Zuletzt finden wir ihn im Kampf gegen Klerikalismus, Antisozialismus und einem sich wieder an die Oberfläche fressenden Antisemitismus.
Nicht unerwähnt bleiben darf, dass die Geraer Neonazi-Band „Totenburg“ 2004 eine CD mit dem Titel „Pestpogrom“ veröffentlichte. Sie wurde erst zehn Jahre später von der Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Medien indiziert. Die Geschichte der Judenpogrome des Spätmittelalters ist somit nicht nur Teil der Vergangenheit, sondern, so ist zu hoffen, gerade in Zeiten der Corona-Pandemie auch wichtiger, mahnender Bestandteil einer demokratischen Erinnerungskultur.
Schlagwörter: Antisemitismus, Mario Keßler, Mittelalter, Pest, Pogrome, Stalinismus