Taganrog, südrussische Stadt am Asowschen Meer; Tschechowstraße 69, früher Alexanderstraße, noch früher Polizeistraße. – Anton Pawlowitsch Tschechow (29. Januar 1860 – 15. Juli 1904): „Ich wurde geboren in dem Haus des Eigentümers Bolotow […] oder Gnutow […] in der Polizeistraße, in dem kleinen Nebengebäude, das im Garten stand.“ Dorthin wollte ich an einem sonnigen Nachmittag, um dem Schriftsteller, Dramatiker, Meister der Kurzgeschichte und feinfühligen Beobachter in seiner Heimatstadt zu begegnen.
Am Eingang zum gepflegten Garten mit den alten Bäumen steht die Tür weit offen zum Museum von Tschechows Geburtshaus. Vorbei an Anton Pawlowitschs Büste und blühenden Rabatten führt der Kiesweg zu einem beschaulichen, blitzsauber in Weiß und Grün gehaltenen Haus, das man eher Häuschen nennen möchte. Vorsicht beim Eintritt! Manch einer muss sich bücken. Eine Tafel versichert: „In diesem Haus wurde Anton Pawlowitsch Tschechow am 17. Januar 1860 geboren“ (Angabe nach dem Julianischen Kalender).
Die Familie hielt Einzug im Herbst 1859 und blieb zwei Jahre. Die Stuben sind kleiner als klein. Die Küche ist winzig und der größte Raum, das Wohnzimmer, hat etwa zehn Quadratmeter. Enge schafft Gemütlichkeit. Auf dem runden Tisch steht der Samowar und im Gebetswinkel hängt unter der Marien-Ikone das Öllämpchen für das Ewige Licht. Durch die Fenster schaut der Garten herein. – Die Museumsführerin malt ein poetisches Bild von der Stimmung: In der Abenddämmerung versammelten sich alle um den Tisch, Kerzen wurden angezündet, und an den kirchlichen Feiertagen drang süßer Duft nach Vanille aus der Küche.
Im Schlafzimmer der Eltern – Antons beglaubigter Geburtsort – sind die kunstvollen Weißstickereien auf Plumeau und Paradekissen bewundernswert. Im ebenerdigen Haus hatten auch die Kinder ihren Raum zum Schlafen, Spielen, Lernen. Mit Anton waren es drei, später kamen weitere drei Sprösslinge hinzu. In einem Brief gratuliert Großvater E. M. Tschechow zur Geburt seines dritten Enkelsohnes Anton. Das Familienfoto der älteren Generation macht deutlich, dass sich die wohlgestalteten Gesichtszüge der Mutter Jewgenia Jakowlewna im Sohne wiederfinden.
Die Eltern, obwohl finanziell nicht reich bestückt, ermöglichten den Kindern gute Schulbildung. Anton war kein Primus. Zweimal musste er eine Klasse wiederholen. Nach einem schulischen Vorbereitungsjahr begann für ihn die Zeit auf dem Jungen-Gymnasium in Taganrog. – Ein langgestreckter, stattlicher Bau, dessen innere Strenge nach außen gekehrt zu sein scheint. An der gelben Hauswand neben dem Eingang steht der Gymnasiast Anton Pawlowitsch. Schmal, hoch aufgeschossen, ein Buch in der Hand. Eine Tafel verkündet: „In diesem Gebäude verbrachte A. P. Tschechow elf Gymnasialjahre 1868–1879“, seit 1954 trägt es seinen Namen. Die Schule, 1809 erbaut, stand im Ruf einer hochangesehenen Bildungsstätte. Die Eltern Tschechow sandten außer Anton auch seine Brüder Alexander, Nikolai und Michail zum Gymnasium.
Die Stadt Taganrog nahm ihre Verantwortung als Hüterin vom Lebenswerk des Schriftstellers sehr ernst. Zu den Jubiläen wurde aus dem „Tschechow- Gymnasium“ in der Oktoberstraße 9 ein Literaturmuseum mit ständig erweiterter Ausstellung. Im Jahr 2010 (150. Geburtstag) hieß die Präsentation „A. P. Tschechow, seine Heimatstadt und die Welt.“
Im Anschluss an den großen Festsaal, ausgestattet mit Porträts und Schlachtenszenen, betritt man die Welt Tschechows. Beginnend mit der Geburt in der Polizeistraße und endend mit dem Tod im damaligen „Hotel Sommer“ in Badenweiler. – Gegenstände aus dem Familienbesitz und Fotos (Anton hatte lebendige, tiefblickende Augen). Das Klassenzimmer. Im Original. Eine Landkarte vom alten Russland, ein Globus, physikalische Geräte, Bücher. Seinerzeit saß er auf der letzten Bank am Fenster. Das Ereignis des Tages: Ich habe auf Tschechows Platz gesessen!
Seinen Mitschülern gegenüber verhielt er sich eher zurückhaltend. Es entsprach seinem Naturell, das zu große Nähe, vor allem aber jede Art von Gewalt scheute. – Schon in der Schulzeit begann er Miniaturen, kleine Geschichten und Parodien zu schreiben. Sie lassen bereits den Sinn für Humor und die Neigung zur Satire erkennen, die später in seinen Werken zur Blüte kommen sollten, ebenso wie die Kunst knapper, aussagekräftiger Formulierung des Gedankens, entsprechend seiner Maxime: „Die Kürze ist die Schwester des Talents.“
Anton verschonte die Lehrer nicht mit Spötteleien. Sie verschonten ihn ebenso wenig. Fjodor Pokrowski, der Theologie lehrte, spöttelte zurück und nannte Tschechow „Antoscha Tschechonte“. Dieser Spitzname gewann später als Pseudonym des Autors einige Berühmtheit. – Was den Gymnasiasten neben dem Schreibdrang bewegte und fesselte, war der Hang zum Theater, dem Schauplatz menschlicher Gefühle. Beides, im Zusammenklang mit der naturwissenschaftlichen Bildung fand in Tschechows Werken seinen Niederschlag. Seien es die Erinnerungen aus Schultagen und Studentenzeit, die man in den Kurzgeschichten finden kann. Oder die Dramen und Komödien, von denen insbesondere „Die Möwe“, „Onkel Wanja“, „Drei Schwestern“ und „Der Kirschgarten“ über nationale und internationale Bühnen gingen und gehen. In jedem Fall folgte Tschechow seinem ureigenen Gestaltungsstil: „Ich habe noch nie unmittelbar nach der Natur geschrieben. Ich muss das Thema erst durch mein Gedächtnis filtern, bis unten im Sieb nur das hängen bleibt, was wichtig und typisch ist.“
Gang durch die vielfältig ausgestatteten Räume. Antons Abiturzeugnis, das einen Lebensabschnitt beendete, in dem er sich nicht immer wohlfühlte. Andenken und persönliche Gegenstände (A.P.T.s „Zwicker“). Manuskripte, Autogramme mit Tschechows schwungvollem Namenszug. Zitate aus Erzählungen, Theaterstücken, Briefen. Ein Bühnenbild, Figurinen; der Programmzettel von der Aufführung „Die Möwe“ in Prag. Material zu Tschechows Tätigkeit als Arzt. Eine Koryphäe war er nicht, aber ein gewissenhafter Vertreter seines Berufsstandes, der die Patienten überwiegend ohne Honorar behandelte. – Und ein umfänglicher Bestand von Ausgaben des Schriftstellers in unterschiedlichen Sprachen. Zum Schluss die Dokumentation seines letzten Aufenthaltes in Badenweiler. Dorthin war er mit seiner geliebten Frau, der Schauspielerin Olga Knipper, Anfang Juni 1904 gereist, um seinem schlechten Gesundheitszustand aufzuhelfen. Doch dann kam der 15. Juli … Fast möchte man meinen, Leo Tolstoi habe Tschechow die Abschiedsworte gesprochen: (Er sei) „einer der wenigen Schriftsteller, die man, ähnlich wie Dickens oder Puschkin, immer wieder von neuem lesen kann …“
1889 bezog Tschechows Vater Pawel Jegorowitsch mit seiner Familie ein großzügiges rotes Backsteinhaus. Darin betrieb er auch sein Ladengeschäft. Das Anwesen gehörte einem Händler aus Taganrog. Antons jüngerer Bruder Michail schreibt: „Wir lebten in I. Moisejews Haus, […] fast am äußersten Rand der Stadt. Wir hatten ein großes zweistöckiges Haus mit Hof und Nachbargebäuden. Der Laden unseres Vaters, eine Küche, ein Speisezimmer und zwei weitere Räume lagen in der unteren Etage. In der oberen Etage wohnte die ganze Familie und noch andere Mieter.“
Seit 1977 ist auch „Tschechows Laden“, Alexanderstraße 100, ein Museum. Über der Tür wirbt ein Schild: „Tee Zucker Kaffee und anderes. Kolonialwaren“. Es ist Teezeit. Ich nehme die Einladung an. – Welches Angebot! Im Verkaufsraum sind die Regale gefüllt. Stand- und Balkenwaage auf dem Ladentisch garantieren das Gewicht der gekauften Waren. Neben dem Stehpult liegt das „Russische Rechenbrett“, der Abakus. Er triumphiert über jeglichen Kopfrechnungsversuch. – Es ist ein Markt im Kleinen: Zuckerhüte und Parfüm, Zitronen, Apfelsinen und Nüsse; getrocknete Früchte und ein Heringsfass; Gewürzschränkchen, Heiligenbilder, Pfannen, Flaschen zum Abfüllen von Wodka und Santorinischem Wein; Kaffeemühlen, Immortellensträuße und Konfektdosen. Die täuschende Echtheit der Naturalien ist unecht. Trotzdem zieht ein besonderes Aroma durch den Raum. Tee und Kaffee der Elitesorten sind zu erwerben. Am kleinen Tisch könnte man, so man wünscht, einen „Assam“ nehmen.
Die Räume im Obergeschoss sind geschmackvoll ausstaffiert. Hell und festlich erwartet das große Wohnzimmer Gäste, Familienfeiern und viel Musik. Pawel Tschechow liebte die Musik. Und führte auch dieserhalb ein strenges Regime. Nicht nur, dass die Jungen oft im Laden aushelfen mussten, sie hatten auch die Auflage, an Sonn- und Feiertagen zur Messe im Kirchenchor zu singen. Anton behielt diese Zeit nicht in bester Erinnerung. – Moosgrüne Polstermöbel umstehen den Tisch. Am Klavier sind die Noten aufgeschlagen.
Nebenan befinden sich eine bescheidene Räumlichkeit für Tante Dolshenko, der Schlafraum der Eltern und die Kinderzimmer mit Puppen, Vogelkäfig und Bilderbüchern. Und zum Staunen eine Laterna Magica. – Der Besuch ist beendet. Unten im Laden kaufe ich drei Teesorten und verabschiede mich.
Vor dem Museum huldigt man Anton Tschechow mit einer Skulpturengruppe zu seiner Kurzgeschichte „Der Dicke und der Dünne.“ Der dicke Herr jovial, wohlbetucht und wohlbeleibt, der dünne Herr mit Frau und Kind in devoter Haltung.
„Auf einem Bahnhof der Nikolaj-Eisenbahn trafen sich zwei Bekannte: der eine dick, der andere dünn. Der Dicke hatte gerade auf dem Bahnhof zu Mittag gegessen. […] Er roch nach Jerez-Wein und Fleur d’orange. Der Dünne war eben aus dem Waggon gestiegen. […] Er roch nach Schinken und Kaffeesatz. Hinter seinem Rücken schaute eine hagere Frau […] hervor – seine Ehefrau und ein langer Gymnasiast […] sein Sohn …“
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