Geht es um Kunstschätze aus augusteischer Zeit, wetteifern in Dresden die Superlative. Ab diesem Wochenende ist, nach sieben Jahren Bauzeit bei laufendem, logistisch herausforderndem Teil-Ausstellungsbetrieb, die Sempergalerie wiedereröffnet. Die ließ König Johann von Sachsen 1847 bis 1854 im Stil der italienischen Hochrenaissance von Gottfried Semper direkt neben der Semperoper erbauen. Das ganze Wochenende können Besucher, nach dem politikergespickten Festakt-Brimborium, hinein, bei freiem Eintritt für Kind und Kegel.
Im protestantischen, gar säkularen Elbflorenz wird die Hohe Messe der altmeisterlichen Kunst zelebriert. „IM HEILIGTHUME DER KUNST“ steht es seit alters her über der einen Tür im zentralen Achtecksaal. Und über der anderen steht neuerdings „WILLKOMMEN“. Als Einladung an jedermann, Laien wie Fachleute, Alte und Junge. Dresdens Galerie Alte Meister wagt den Schritt in die Zukunft. Dieser Schritt beruft sich eigentlich auf das, was noch im Mittelalter völlig selbstverständlich war: Malerei und Skulptur waren nicht getrennt, aber in der Neuzeit machte die strenge museale Separierung Schule. Und heutige klassische Museen tun sich bislang schwer damit, das zu ändern.
Im Semperbau aber kommt nun zusammen, was zusammengehört. Die Inszenierung, die neue Lichtregie mit Tageslicht, die pointierten Blickachsen wirken grandios. Gemälde und Skulpturen aus ihren jeweiligen Epochen, viele liebevoll restauriert, erzählen mit sinnlicher Kraft von den Schönheitsidealen, vom Glauben, von Machtverhältnissen, von Frieden und Krieg, von Lüsten und Ängsten, Moden und Ritualen ihrer Zeit. Beide Gattungen halten Zwiesprache, ergänzen einander, erfreuen, ergreifen – und unterhalten uns bildersatte Menschen des 21. Jahrhunderts.
Die Ära der all diese Schätze sammelnden, ihrer Repräsentationslust frönenden Sachsenkönige will in Dresden weiß Gott niemand zurückhaben. Und doch verbindet sich mit August II., genannt der Starke (1670–1733), Kurfürst von Sachsen und König von Polen (wofür der Lutheraner extra zum Katholizismus konvertierte), die Glanzzeit des Landes, das damals westlich, nördlich, südlich und östlich viel weiter reichte als heute.
Glanzvoll indes war nicht, was Regierungs-, Diplomatie- und Kriegskunst anbelangte, sehr wohl aber Architektur, Bildkunst, Wirtschaft, mit dem Exportschlager Meißner Porzellan – und die Lebensweise derer, die es sich leisten konnten. Die Leidenschaft, dazu die Gabe der wundersamen Vermehrung der schönen Künste, vererbte der statussymbolbewusste Monarch auf seinen ansonsten mit wenig Führungsschneid gesegneten Sohn August III. (1696–1763).
Der Hof der „Sächsischen Sonnenkönige“, deren Finanzminister Flemming sich immer wieder die Haare gerauft haben soll, woraufhin er aber doch immer wieder das nötige Geld für Kunst beschaffte, galt nach 1700 als der glänzendste Deutschlands. Alle erdenklichen Vergnügungen herrschten. Man sagt dem reitbesessenen und muskelprotzenden Hufeisen-Verbieger August II. gar nach, er habe mit Mätressen in Sachsen und Polen 354 Kinder gezeugt. Von allzu vielen Legenden überwuchert ist das Bild des Mannes, der Sachsen auf den Weg zum Absolutismus führte.
August gab, wie sein Nachkomme, Dresden das einzigartige barocke Architekturgesicht. Zugleich freilich entfesselte der „Starke“ leichtsinnig den verheerenden Nordischen Krieg und kam aus dem Desaster mit heiler Haut nur mit Hilfe von Zar Peter I. heraus. Er vergeudete Millionen Taler für seine abenteuerliche Politik. Doch verdankt ihm die Welt Bauwerke wie den Dresdner Zwinger: Pöppelmann baute bis 1733, dem Todesjahr des Monarchen, eine der großartigsten Schöpfungen barocker Baukunst nördlich der Alpen. Der prächtige Figurenschmuck des 1945 bombenzerstörten, aber denkmalgetreu wiederaufgebauten Zwingers stammt von Balthasar Permoser, dem Bildhauer des Dresdner Barock. Und beteiligt war der Kurfürst auch an der 1705 gegründeten Malerakademie, ab 1764 Königlich-Sächsische Akademie der Bildenden Künste und heute die namhafte Kunsthochschule an der Brühlschen Terrasse. Neue, vom Vater, später vom Sohn erlassene Bauordnungen regelten die Umwandlung der Renaissance-Stadt Dresden in eine Barockstadt in Steinbauweise, einheitliche Anzahl und Höhe der Stockwerke und gleiche Farbe. Die Kunstkammer, dieses Kuriositätenkabinett aus aller Herren Länder, bot August II. das Stammkapital fürs spätere Grüne Gewölbe. Von seinen kurfürstlichen Ahnen hatte er Spitzenwerke von Dürer und Cranach geerbt. 1699 kaufte er Giorgiones durch Tizian vollendete „Schlummernde Venus“ hinzu, später einige Rubens, etwa den orgiastischen „Trunkenen Herkules“, in dem August sich wohl spiegelte. Auch die erotische „Leda mit dem Schwan“ wurde angeschafft. Was „der Starke“ mit Kunstsinn und Herrscherwillen begründete und sein weichlicher, aber noch viel obsessiverer Sohn mehrte, etwa mit Raffaels „Sixtinischer Madonna“, strahlt ungebrochen in die Welt. Kunstagenten August III. kauften 1754 das Hoch-Altarbild der Sixtina – Raffael hatte es im Auftrag von Papst Julius II. im Jahr 1512 gemalt. Die verarmten Schwarzen Mönche der Klosterkirche San Sisto Piacenza verlangten 25.000 Scudi, um ihr Kloster vor dem Verfall zu retten. Als das Bild den Transport über die Alpen überstanden hatte und am Hofe eintraf, ließ der verzückte König seinen Thron beiseiteschieben, um es tagelang betrachten zu können: Die Madonna kommt, wie Fleisch und Blut, aus einem geöffneten dunkelgrünen Vorhang und über Quellwolken auf die Erde, direkt auf uns Betrachter zu. Und die – heute als Werbekitsch in aller Welt benutzten – Engelchen am unteren Bildrand, die Arme aufgestützt, drehen die Augen nach oben, als folgten Kinder andächtig einem Puppenspiel.
Raffael machte aus dem mittelalterlichen Standardmotiv etwas Neues, Menschenzugewandtes, das aus dem Licht kommt. Er hat die bei anderen Malern sakral Entrückte ins Diesseitige geholt: „alla prima“ – schnell, mit Schwung und eher intuitiv. Ist sie damit eine von uns? Eine Sterbliche? Auf jeden Fall ist sie den Dresdnern „die schönste Frau der Welt“. Pariser würden freilich mit Leonardos Mona Lisa und Berliner mit Nofretete parieren.
Jetzt nun ist das italienische Muttergottes-Mädchen in ihrem Tabernakel-Altar-Rahmen der Mittelpunkt des Allerheiligsten des Hauses. Noch immer ist sie so gut erhalten, dass sie bislang kein Restaurator antasten musste. Auch nicht sowjetische Konservatoren, als das Bild, wie andere Kunstschätze, die den Krieg in erzgebirgischen Bergwerksstollen überdauert hatten, 1945 für zehn Jahre in die Sowjetunion als Beute verbracht wurde. Sie ist der Grund, warum Jahr für Jahr so viele Russen nach Dresden reisen. Schon Dostojewski schrieb nach ihrem Anblick die Sentenz „am Menschenbild verzweifelnd“ nieder.
Nun wird sie flankiert von den Lolita-Madonnen vor allem des Italieners Correggio. Dessen „Heilige Nacht“ galt bis zum Ankauf des Raffael-Bildes als Hausheilige der Sammlung, jetzt gehört Maria zum Hofstaat. Nach diesem Bilderlebnis gelangt man in ein fast atemlos machendes Aufgebot: 1100 Gemälde und korrespondierende Skulpturen – italienische Schule, gerade die venezianische, die spanische, französische, niederländisch-flämische, deutsche. Renaissance und Barock belegen den jeweiligen Zeitgeist. Von da geht es zu den Skulpturen, den berückenden Marmorfiguren der „Tageszeiten“ nach Michelangelo des Bildhauers Giambologna von 1555/58. Und zu den barocken Permoser-Statuen aus Plassenkalk von 1728, so den in theatralischer Hüftschwung-Pose dargestellten Leiden „Christus an der Geißelsäule“.
Alles, was sich nach Epochen und geografischen Schulen neu darbietet, diese Fülle von Bildern in der typischen „Dresdner Hängung“, dicht neben- und übereinander, und die Bildhauerkunst auf den Sockeln daneben, ist eingeschrieben ins kulturelle Gedächtnis Europas: Der Semperbau besitzt 4000 Meisterwerke der Malerei, die August III. ängstlich, aber mit Recht im Siebenjährigen Krieg auf der Festung Königstein versteckt hatte, dazu die bislang nur im Schaudepot des Albertinums bewahrten Skulpturen der Antike und der Zeit bis 1800. All das ist Welterbe, gehört Dresden nicht allein.
Nicht zu vergessen, wie es zu diesen mit keinem Geld der Welt bezahlbaren Schätzen kam: Der sächsische, der erzgebirgische Bergbau, dazu extreme Steuern finanzierten einst die kostspieligen Kunstobsessionen der Monarchen. Gerade deren Untertanen also verdanken wir den „Sächsischen Louvre“.
Berliner Zeitung, 29.02./01.03.2020. Übernahme mit freundlicher Genehmigung der Autorin und des Verlages.
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