23. Jahrgang | Nummer 6 | 16. März 2020

Die Insel der Fräuleins

von Dieter Naumann

Die etwa 75 Hektar große Insel Öhe liegt im Schaproder Bodden, von Schaprode auf Rügen nur durch den gleichnamigen Strom, auch „Trog“ genannt, getrennt. Das kleine Eiland wäre kaum erwähnenswert, wenn es nicht die rund dreißig Jahre andauernden Streitigkeiten um den Besitz der Insel, die Fähre und die umliegenden Gewässer gegeben hätte.

Volkskundler Alfred Haas verdanken wir die Historie der Insel: Ursprünglich hieß sie „Ostrov“ („umflossenes Land“), führte aber bereits ab 1318 den Namen „Oehe“. In der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts siedelte sich ein aus dem Holsteinischen stammender Herr von der Wisch auf Rügen an, dessen Sohn, der Knappe Johannes, das Lehen des Vaters über die Insel erhielt und bald als „Johannes de insula, quod dicitur oe“ („Johannes von der Insel, die Oe genannt wird“) firmierte. Mit der Zeit verdrängte „von der Oe“ den ursprünglichen Familiennamen „von der Wisch“.

Mit Cur(d)t von der Oehe begann 1478 die „eigentliche“ Stammreihe dieses Adelsgeschlechts, das die kleine Insel fast sechs Jahrhunderte in Besitz haben sollte, freilich mit Unterbrechungen. So verkaufte der letzte männliche Vertreter des Adelsgeschlechts, Curt Melchior von der Oehe, die Insel und das gleichnamige Rittergut 1857 an Albert Abshagen, ohne allerdings das Erbrecht seiner beiden Schwestern Eleonore Franziska und Friederike zu beachten. Spätestens 1876 wurde die Insel zurückgekauft.

1876, nach dem Tod von Friederike, übernahmen deren Töchter Lauretta (auch Laurette) und Ida (auch Johanna) Schilling-Oehe die Insel. Im Provinzial-Handbuch für Neu-Vorpommern und das Fürstenthum Rügen auf das Jahr 1877 wurden die „Geschwister Fräulein Schilling“ für das „Vorwerk“ Insel Oehe mit zwei Wohnhäusern und 23 Einwohnern genannt, in späteren Jahren kam ein Pächter Haase hinzu.

Bereits 1881 begann ein lang dauernder und über Rügen hinaus bekannt gewordener Streit der beiden Schwestern mit den gegenüber wohnenden Nachbarn, den Besitzern des nahe gelegenen Gutes Streu (anfangs die Familie von Bohlen) und den Vertretern staatlicher Macht.

Was sich heute kaum noch nachvollziehbar und eher amüsant liest, beschäftigte zur damaligen Zeit nicht nur die Gerichte bis hinauf zum Reichsgericht, sondern fand sogar Eingang in die Literatur (unter anderem Fedor Sommer: Ein wunderliches Eiland, Reclam 1914). Volkskundler Wolfgang Rudolph sah in seinem erstmals 1953 erschienenen Buch Die Insel Rügen die Schuld für die wechselseitigen Beschuldigungen und Vorwürfe bei beiden Parteien: Von Bohlen, der mit der Insel liebäugelte, wird die beiden „Weiber“ nach damaliger Auffassung „nicht für voll genommen“ haben, und „die beiden ältlichen Jungfern waren wahrscheinlich reichlich wunderlich“. In einem Gutachten des Leiters der „öffentlichen Irrenanstalt“ Greifswald, Professor Arndt, hieß es zu Lauretta: „Fräulein Schilling ist eine eigentümliche, bei einer gewissen leichten Reizbarkeit darum auch leicht einmal exzentrische und wohl auch extravagante Persönlichkeit; allein klug, scharfsinnig und umsichtig, weiss sie sehr wohl sich und ihre Angelegenheiten zu vertreten und vertritt sie thatsächlich mit männlicher Energie und Einsicht.“

Alles begann ursprünglich damit, dass Familie von Bohlen mehrfach vergeblich versuchte, die Insel ihrem Gut Streu hinzuzufügen, was – laut Lauretta Schilling-Oehe –, obwohl der gebotene Kaufbetrag „sehr annehmbar“ war, immer wieder abgelehnt wurde und zu ersten Spannungen führte. Als die Schwestern selbst die Insel übernommen hatten, entwickelte sich ein zunehmend eskalierender Streit um die uralte Seilfähre, die die Insel mit Schaprode verband, und die Nutzungsrechte am 33 Meter breiten „Trog“ zwischen Oehe und Schaprode.

So sollen die beiden Schwestern zunächst die Nutzung der angeblich ihnen gehörenden Fähre verboten haben, was seitens der Schaproder Bürger mit dem Zerschneiden des Fährseiles beantwortet wurde. Die Post stellte bald die Zustellung von Briefen und Telegrammen auf die Insel ein, Schaproder Händler weigerten sich, Waren auf die Oehe zu liefern. Die Schillings verbaten sich auch das Werben (Ernten) des Rohres am Ufer der Oehe und sollen Rohrwerber und Fischer, die sich nicht daran hielten, sogar beschossen haben. Das führte im April 1902 vor der Strafkammer in Stralsund zu einem der zahlreichen Prozesse; einem der wenigen, den die da noch lebende Schwester Ida gewinnen konnte. Der erzielte Freispruch erfolgte mit der Begründung, die Beklagte, Ida Schilling-Oehe, habe immer geglaubt, die Wasserfläche sei ihr Eigentum, welches sie nur verteidigt habe.

Andere Beschuldigungen waren, dass die beiden „Fräuleins“ Gendarm Dörp bei seiner Arbeit behindert, Staatsanwalt Müller beleidigt, mit Steuerpächter Volkmann gestritten hätten und so weiter.

Lauretta ihrerseits klagte zum Beispiel wegen ungesetzlicher Hausdurchsuchungen, Hausfriedensbruch und Verhaftung ohne Haftbefehl durch die Gendarmen Dörp, Borck und Lange, warf Landgerichtsrat Dr. Budee Befangenheit und dem Greifswalder Rechtsvertreter der Prozessgegner, Justizrat Kirchhoff, Prozessverschleppung vor.

Es kam fast alle halben Jahre zur Verhaftung Laurettas und zu einer Lawine von Prozessen, von denen die meisten zur regelrecht Volksbelustigung ausarteten.

Da man sich trotz des hohen Bekanntheitsgrades des Rechtsstreites kein klares Bild von den zugrundeliegenden Tatsachen machen konnte, sah sich Lauretta veranlasst, „anhand des umfangreichen Aktenmaterials eine vollständig objektive und gänzlich leidenschaftsfreie Darstellung dieses Justiz-Dramas zu geben“ und dabei alles „bei Seite zu lassen, was ein gerechtes Urteil in ungerechter Weise beeinflussen könnte“. Eine fast 80 Seiten umfassende Broschüre mit dem Titel Der Kampf ums Recht des Fräuleins von der Oehe erschien im Selbstverlag. Lauretta beklagte darin einleitend, dass sich aus einer Zivilklage ein „wahrer Rattenkönig“ von Prozessen entwickelt habe, der namentlich sie einer „wohl beispiellosen Hetze“ ausgesetzt habe, die ebenso unverdient wie höchst bedauerlich sei.

Ohne Zweifel sind die dann folgenden Beschreibungen der unzähligen Auseinandersetzungen durch die einseitige Sicht Laurettas geprägt. Es fällt vor allem auf, dass es augenscheinlich keinerlei kritische Sicht auf die eigenen Handlungen und keinerlei Folgenkalkulation gab. Ein zugegeben hinkender Vergleich mit Michael Koolhaas drängt sich auf. Ungeachtet dessen können einzelne Ungerechtigkeiten, Intrigen derer von Bohlen, Falschaussagen vermeintlicher Zeugen und Geschädigter und fragwürdige Rechtsauslegungen zu Lasten der beiden Schwestern nicht gänzlich ausgeschlossen werden. Dafür sprächen zumindest die von Lauretta aufgeführten Freisprüche bei einigen Anklagepunkten.

Lauretta, die in der Rügen-Literatur auch als Dichterin bekannt ist (bereits 1855 erschien anonym bei Julius Sandhop, Stralsund, ihr Gedichtband Liederkranz. Herausgegeben zum Besten der Armen-Kinder-Stube in Bergen mit 75 Gedichten) verstarb 1887. Ida soll die tote Lauretta zunächst in einer alten gestrandeten Schiffskajüte im Garten beigesetzt haben, was von der Polizei verboten wurde. Die Schwester beauftragte nun einen Schiffer, den Sarg nach Greifswald zu segeln, wo die Schillings ein Erbbegräbnis hatten. Hier verweigerte jedoch die Polizei die Anlandung des Sarges, weil die erforderlichen Bescheinigungen und Papiere fehlten. Der Schiffer kehrte nach den verschiedensten vergeblichen Behördengängen wütend zum Hafen zurück. „Es war bereits dunkel geworden“, erzählt Wolfgang Rudolph in seinem Heimatbuch, „und auf dem Bollwerk am Ryck war weit und breit kein Mensch zu sehen. Da kam dem Schiffer eine glorreiche Idee. Er rief seinem Jungen zu: ‚Du, fatt ees an, – wi war‘n de Ollsch süst nich los!’ So schoben sie den Sarg schnell an Land, setzten Segel und fuhren ab. Der Sarg stand einsam auf dem Bollwerk. Mochten die noblen Greifswalder zusehen, wie sie ihn unter die Erde bekamen!“

Ida Schilling-Oehe – die, vereinsamt und weiterhin von den verschiedensten juristischen Beamten und gutsherrlichen Vertretern bedrängt – litt zunehmend an Wahnvorstellungen, verließ bald die Insel und soll 1921verstorben sein.

Heute wird die Insel, auf der sich noch die von den beiden Schwestern gepflanzten Alleebäume befinden, von Mathias Schilling und seiner Familie bewohnt und bewirtschaftet. Die junge Familie züchtet Rinder und Schafe und betreibt Restaurants und Hofläden auf Hiddensee und in Schaprode, berichtete die Ostsee-Zeitung im November 2018.