Die Sonne bringt es an den Tag, heißt es. In Frankfurt ist es jetzt der Mond. Genauer das Mondlicht. Barrie Kosky hat „Salome“ inszeniert und wieder einmal verblüfft. Auf den ersten Blick wird der Australier gerne mit der großen, mit Federboa geschmückten Revue-Formation in Verbindung gebracht. Seit er Intendant der Komischen Oper in Berlin ist, hat er sich unter anderem mit besonderer Hingabe der Pflege der jüdischen Berliner Operette gewidmet, die zur Aura der Zwanziger- und frühen Dreißigerjahre des vorigen Jahrhunderts gehörte. Und die nach der Machtergreifung der Nazis im Januar 1933 ziemlich schnell ins Visier von deren Rassenfuror geriet.
Barrie Kosky ist aber nicht nur ein Liebhaber und virtuoser Meister der Operette. Er zieht in seinen Inszenierungen auch schon mal (meistens passend) die jüdische oder schwule Karte. Weil er es sich leisten kann. Vor allem aber weil er es einfach kann. In seinen derzeit auf dem Bayreuther Spielplan stehenden „Meistersingern von Nürnberg“ liefert er erst einen hinreißend unterhaltenden, geradezu komödiantischen Einblick in das Privathaus Richard Wagners und lässt dann von einem Rednerpult im Gerichtssaal der Nürnberger Prozesse aus einen Popanz aufsteigen, der den antisemitischen Klischees entspricht, die von den Nazis offensiv propagiert wurden.
Als Regisseur kann Kosky aber nicht minder durchgehend und überzeugend „ernst“ sein. Ein Geniestreich in dieser Richtung war etwa seine Hannoveraner Inszenierung von Janáčeks „Aus einem Totenhaus“, die er zu einem Hofgang im Vorhof der Hölle gemacht hat. Personenführung pur auf einer scheinbar frei schwebenden Fläche. Ein Beispiel für das Prinzip „weniger ist mehr“, das er jetzt in Frankfurt mit „Salome“ auf die Spitze treibt. Und damit der Titelfigur atemberaubend nahekommt.
Von der Vorgänger-Inszenierung an diesem Haus, die Christof Nel 1999 besorgte, ist vor allem eine Szene in Erinnerung geblieben, zu der Kosky jetzt gleichsam die Antithese liefert. Bei Nel sah man Salome als ganz junges Mädchen auf einen Billardtisch, und die sabbernden Besucher eines Herrenklubs waren so von ihrer eigenen Projektion des Begehrens durchdrungen, dass sie selbst um sie herum tanzten, während Salome vor Angst erstarrt dastand. Auch bei Kosky tanzt Salome nicht. Aber es gibt einen radikalen Perspektivenwechsel. Es geht zwar auch hier am Ende um den Kopf des Jochanaan, doch diese Salome ist dennoch weder Opfer noch Monster. Sie ist, was sie ist. Und obwohl man nichts von ihrer royalen Lebenswelt zu sehen bekommt, ist sie zuerst mal die verwöhnte Tochter eines Elternpaares, das einander mit lodernder Verachtung begegnet. Gewöhnt, die Dinge, die sie will, auch zu bekommen, besteht sie auf dem Kopf des Propheten, als der sich ihrem erwachenden Begehren verweigert.
Kosky dringt mit diesem Zugang tiefer in das Stück ein, als es ein noch so erkennbares Ambiente des Hofes von Herodes vermag. Er lässt alles weg, was man gemeinhin kennt. Den konkreten Schauplatz oder dessen Überschreibung mit einer anderen Vergangenheit oder Gegenwart. Vom antiken Mauerwerk über das Gefängnis des Jochanaan bis zu den streitenden Juden, die nur gesichtslos als maskierte Erscheinungen über die Szene huschen. Selbst Narraboth und der Page tauchen nur momentweise auf. Es gibt keine Leiche des jungen Syrers, die weggeschafft werden muss oder liegen bleiben kann. Soldaten oder Nazarener – alles nur Stimmen. Auch kein Henker ist zu sehen, sondern nur ein großer Haken für den Kopf des Jochanaan. Die Bühne ist dunkel und leer. Diesmal ist es nicht der Blick in den Abgrund, diesmal sind alle schon drin und merken es nicht.
Diese Perspektive lässt keinen Raum für einen moralischen Richterstuhl. Sie zwingt zur Bestandsaufnahme. Bei seinem rigorosen Zugriff auf den Kern des Stücks – Salome selbst – leistet sich Kosky sogar eine kleine akustische Erweiterung. Bevor die Musik im Graben einsetzt, hören wir ein vorbeifliegendes, geheimnisvolles Scharren. Es muss der Flügelschlag des Todesengels sein. Das Schreckliche, von dem Herodes ahnt, dass es geschehen wird, schickt so einen akustischen Boten voraus.
Dazu hebt ein Lichtkegel eine faszinierende Gestalt aus dem Dunkel hervor. Wie eine prachtvoll unwirkliche Skulptur. Salome von hinten. Weiß glitzernd mit imposantem floralem Kopfschmuck. Eine Frau, die mit der kalten Schönheit des Mondes konkurriert, ein Wesen, das den Flügelschlag des Todesengels zu hören vermag.
Und wir schauen zu, wie sich da ein junges Mädchen selbst erkennen lernt. Wie sie sich verliebt und auf Entdeckungsreise begibt. Das Objekt ihrer wachsenden Begierde sehen will und berührt. In Koskys detailversessenen, perfekten Personenregie wird sichtbar, wie Jochanaan für einen Moment etwas anderes sein möchte, als nur die Stimme seines Herrn, und dann sein aufflackerndes Begehren niederkämpft. Und sichtbar wird, wie beide für Momente in ihrer Liebe zu etwas anderem, für sie jeweils Größeren vereint sind. Wenn auch auf vollkommen entgegengesetzte Weise. Bei ihm ist es der Glauben an seine Mission. Bei ihr die unverstellte, ganz handfest irdische Neugier und Lust auf ihn. Er steigert sich in Gewaltfantasien eines religiösen Fanatikers. Sie saugt dem abgeschlagenen Kopf des Propheten am Ende gleichsam noch einmal das Leben aus. Und steckt im letzten Augenblick ihren Kopf in seinen hinein. Ein kurzer Triumph.
Die sinnlich musikalische Faszination des Tanzes der sieben Schleier, der gelegentlich mit szenischen Peinlichkeiten oder Verlegenheitslösungen einhergeht, verweigert Koskys der Rolle der Salome völlig. Obwohl Ambur Braid zuvor reichlich bewiesen hatte, wie geschmeidig sie zu schweben versteht. Hier sitzt sie wie ein trotziges Kind mit gespreizten Beinen auf dem Boden und zieht aus ihrem Körper ein unendlich lang wirkendes Etwas hervor. Im ersten Moment denkt man noch an eine Nabelschnur oder an Gedärm, dann wird klar, dass es eine monströs lange Haarsträhne (des Propheten?) ist. Ein Symbol für ihr Begehren? Es ist ein Bild, an das man sich während des Tanzes erst gewöhnen muss und das den konsequenten und so triftigen Reduktionismus der Inszenierung auch etwas durchbricht.
Die Maske, die Katrin Lea Tag Christopher Maltman als Jochanaan verpasst hat, macht seinen Propheten zum Gegenteil der Schönheit und der Jugend, die Salome in ihm sieht. Im Saal kann man nur ihre Begeisterung für seine kernig warme und eloquente Stimme nachvollziehen. Zottlig, halbnackt, mit schlabbriger Unterhose – eine strahlende Erscheinung nur im Auge dieser einen Betrachterin. Salome dagegen darf vier Mal ihr Outfit wechseln. Auch etwas, was sie nur für sich selbst tut, denn Narraboth und der Tetrarch sind ihr ja ohnehin verfallen und bei Jochanaan hat sie keine Chance.
Im Anzug oder Chanel-Kostüm, vor allem jedoch als Elternpaar ohne royale Aura: AJ Glückert und Claudia Mahnke als Herodes und Herodias. Auch die beiden – knapp aber höchst genau gezeichnet – sind sparsam im Umgang mit der oft in diesen Rollen zu hörenden keifenden Nervosität. Optisch fast weggeblendet, aber mit vokalem Luxus ist Katharina Magiera der reine Pagenluxus an der Seite von Gerard Schneider als schmachtendem Narraboth. Vokal ist das Ganze pures Vergnügen, vor allem weil Ambur Braid gegen das Rollenklischee ihre Stimme auch in der Ekstase ohne jede Schärfe leuchten lassen kann.
So wie die Verfolgerscheinwerfer manchmal die kleinste Handbewegung oder Geste ins Visier nehmen, versucht es auch die Nürnberger GMD Joana Mallwitz. mit dem wunderbar homogenen Frankfurter Opern- und Museumsorchester zu halten. Die Nacht auf der Bühne lässt da manches Detail und den opulent verführerischen Klang noch luxuriöser erstrahlen, als im Scheinwerferlicht einer Blicktotale auf das Stück.
Barrie Kosky wollte erklärtermaßen den Staub vom Stück entfernen, es sozusagen von innen, vom Text und von der Musik her neu lesen und erschließen. Das ist ihm gelungen. Zum Wohle dieses immer noch schockierenden Einakters. Und als Ausweis seiner Fähigkeiten, auf diesem Gebiet fast alles zu können.
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