23. Jahrgang | Nummer 5 | 2. März 2020

Wider die Glorifizierung des Großen Kurfürsten

von Manfred Orlick

Als der blutjunge, erst 20-jährige Hohenzoller Friedrich Wilhelm (1620–1688) nach dem Tod seines Vaters 1640 die Regentschaft als Kurfürst von Brandenburg übernahm, trat er ein schweres Erbe an. In Deutschland tobte noch immer der Dreißigjährige Krieg und Brandenburg war ein ruinierter, teils entvölkerter Landstrich. Mit seiner klugen, umsichtigen Herrschaft sollte er der Wegbereiter für Preußens Aufstieg zur Großmacht werden und das Haus Hohenzollern zu einer der führenden Dynastien in Europa machen. Der Große Kurfürst hatte damit die Grundlagen gelegt, die Friedrich der Große ausbauen konnte.

Friedrich Wilhelm ein „Großer der Geschichte“ – so lautet jedenfalls das gängige Urteil bis heute. Es entsprach vor allem seinem eigenen Selbstbild. Der Historiker Jürgen Luh legt nun zum 400. Geburtstag (16. Februar) des Großen Kurfürsten eine bemerkenswerte Biografie vor, in der er einen neuen Blick auf den Begründer Preußens wirft. Kritisch nimmt er die Glorifizierung Friedrich Wilhelms unter die Lupe und liefert anhand von Quellen das Bild eines Zauderers, der „unsicher, misstrauisch und wankelmütig“ agierte. Mal waren es die kaiserlich-katholischen Heerscharen, mal die schwedische Armee … Brandenburg war ein Spielball im Machtkampf der großen europäischen Nationen.

Bereits Kindheit und Jugend Friedrich Wilhelms waren für den Autor von bedrückenden Verhältnissen geprägt. Schwermut, Trübsinn und Einengung seiner Freiheit bestimmten diese Jahre. Auch nach Machtantritt ist von Selbstvertrauen und Machtbewusstsein keine Spur, vielmehr ist er seiner Sache nicht sicher. Er sah sich nach Hilfe um und fand Beistand vielfach bei Frauen – von seiner Großmutter Luise Juliana über Luise Henriette von Oranien bis zu Dorothea von Schleswig-Holstein. Seine ersten Regierungsjahre waren nicht gerade von Erfolg gekrönt; so musste Friedrich Wilhelm im Zuge der westfälischen Friedensverhandlungen zu Münster und Osnabrück ab 1645 auf den rechtmäßigen Anspruch Vorpommerns zugunsten Schwedens verzichten. Dass auf dem Reichstag 1653 in Regensburg nicht er, sondern der Kurfürst von Sachsen die Führung des Corpus Evangelicorum übernahm, war eine weitere Zurücksetzung seiner Person.

Friedrich Wilhelm betrieb eine vorsichtige „Schaukelpolitik“ gegenüber den Großmächten. Streng genommen war der Vertrag von Labiau, in dem der schwedische König Karl X. Gustav dem Kurfürsten die Souveränität über ganz Preußen zugestehen musste, nach Ansicht des Autors der erste wirkliche Erfolg seiner Regierungszeit. Er war damit souveräner Herzog von Preußen. Diese Position unter den europäischen Mächten wollte Friedrich Wilhelm ausnutzen und ausbauen.

Als 1672 die Franzosen unter König Ludwig XIV. die Niederlande angriffen, kam Friedrich Wilhelm seinen Bündnispflichten nach und entsandte ein 20.000 Mann starkes Heer, was die Schweden auf den Plan rief. Die Schlacht von Fehrbellin 1675 war dann der erste eigenständige Sieg der Brandenburger. Er stärkte das Staatsbewusstsein Brandenburg-Preußens und bescherte Friedrich Wilhelm den Beinamen Großer Kurfürst. Trotzdem brachte der Sieg kaum greifbaren Zugewinn und Friedrich Wilhelm musste wieder zwischen den Mächten lavieren. In seinen letzten Regierungsjahren sollte der Überseehandel mit einer eigenen Kolonie in Afrika den erhofften Reichtum bringen, doch wieder hatte Friedrich Wilhelm seine Kräfte überschätzt.

Vielleicht (oder sicher) ist das wahre Bild Friedrich Wilhelms nicht so strahlend, wie es die Geschichtsschreibung bisher vermittelte und die historische Wirklichkeit sieht etwas anders aus. Aber mitunter hat man beim Lesen des Buches den Eindruck, der Autor fechte bei der durchaus berechtigten Revision dieses Bildes eine Privatfehde mit dem Protagonisten aus. „Hilflose Einfalt und politische Ohnmacht“, „kleinmütig und ohne Glauben an sich selbst“, „nicht ernstgenommen“ oder „keine Skrupel und Bedenken“ … Solche Charakterisierungen finden sich jedenfalls zuhauf. Bereits in seiner kurzen Einleitung fällt Luh ein vernichtendes Urteil: „es gibt nichts, wodurch er sich besonders hervortut – abgesehen von dem Anspruch, zu den Großen Europas zu gehören“. Erwähnt sei auch, dass die Lektüre wegen der vielen Schachtelsätze ein hohes Maß an Konzentration erfordert.

Jürgen Luh: Der Große Kurfürst – Sein Leben neu betrachtet, Siedler Verlag, München 2020, 336 Seiten, 25,00 Euro.