23. Jahrgang | Nummer 5 | 2. März 2020

Ängste vor der Realität

von Waldemar Landsberger

Nachdem sich die SPD in ihrer Außendarstellung auf das Maß ihres gegenwärtigen politischen Zuspruchs zu beschränken scheint und die Hamburger Wahl als Milieu-Ereignis ansieht, das eher die Ausnahme von der Regel bildet, als dass sie die Schwalbe gibt, die den Frühling macht, ist die CDU noch weit davon entfernt. Sie landete bei der Bürgerschaftswahl am 23. Februar bei 11 Prozent und hatte nochmals fast fünf Prozent gegenüber 2015 verloren. Gleichwohl besteht die CDU darauf, „Volkspartei“ zu sein, die im Sinne des „ganzen deutschen Volkes“ schaltet und waltet.

Das offene Problem aber ist nach wie vor Thüringen. Nach der eigenartigen Wahl des FDP-Mannes Thomas Kemmerich am 5. Februar sollte in Ruhe hinter die Kulissen geschaut werden, was dort passiert ist. Die CDU landete bei der Landtagswahl am 27. Oktober 2019 auf dem dritten Platz, hinter Linkspartei und AfD; sie hatte knapp 22 Prozent erreicht und fast zwölf Prozent gegenüber 2014 verloren. Bodo Ramelow hatte mit den Linken zugelegt und erreichte als Landesvater 29 Sitze – in einem Landtag mit 90 Sitzen. Die Linkspartei wurde erstmals in einem Bundesland stärkste Partei. Die Sozialdemokraten und die Grünen hatten jedoch verloren, so dass die rot-rot-grüne Koalition nur noch 42 Sitze hat, während AfD, CDU und FDP auf insgesamt 48 Sitze kamen.

Die Linke und die AfD haben zusammen 51 Sitze. Damit war das Geschwätz der CDU, mit den „Rändern“ gleichermaßen nichts zu tun haben zu wollen, ad absurdum geführt. Nur wollte die Berliner Parteizentrale das nicht wahrhaben. Politik-logisch hätte es eine Entscheidung der CDU geben müssen, die Ränder-These in die Asservatenkammer zu geben und entweder eine Mitte-Rechts-Verbindung mit der AfD oder eine Mitte-Links-Konstruktion mit der Linken einzugehen. Tertium non datur. Mike Mohring, der glücklose Spitzenmann der CDU, eierte rum. In ersten Auftritten im Fernsehen verwies er darauf, dass es eine Mehrheit jenseits von Rot-Rot-Grün gibt. Da wurde ihm von Berlin aus untersagt, es mit dem Teufel AfD zu versuchen. Dann orakelte er, man könne auch mit den Linken über „Projekte“ in der Landespolitik reden. Da hieß es, er solle ja die Finger vom Beelzebub der „Kommunisten“ lassen. Schließlich, als es auf eine Ministerpräsidentenwahl zulief, murmelte er etwas von einem Gegenkandidaten zu Ramelow in einem dritten Wahlgang. Nun wurde ihm beschieden, er solle es ja unterlassen, selbst als Gegenkandidat der CDU anzutreten, der mit den Stimmen der AfD gewählt werden könnte. Er war in aller Form gehorsam, aber offenbar war der FDP-Mann Kemmerich bereit, diese Rolle zu übernehmen.

Der Rest ist bekannt. Bundeskanzlerin Merkel beschied den staunenden Untertanen von Afrika aus über alle Köpfe auch der eigenen Partei hinweg, dass diese Wahl ein „unverzeihlicher Fehler“ gewesen sei und „rückgängig“ gemacht werden müsse. Damit waren nicht nur Kemmerich und Mohring, sondern auch die CDU-Vorsitzende Kramp-Karrenbauer desavouiert. Folgerichtig traten alle drei zurück. Nur: das politische System der Gewaltenteilung in Deutschland ist auf der horizontalen wie der vertikalen Ebene so organisiert, dass der Chef (oder die Chefin) der Exekutive des Bundes nicht befugt ist, eine Entscheidung der Legislative in einem Bundesland rückgängig zu machen. Merkel macht’s möglich.

Dass die ganze Sache damit nicht beendet war, zeigte sich, als die Berliner CDU-Zentrale es als immerhin positiven Vorgang wertete, dass Ramelow nun nicht mehr amtierender Ministerpräsident Thüringens ist – das „Unverzeihliche“ war offenbar doch gewollt, und die CDU übt sich in Heuchelei und spielt mit verteilten Rollen. Bei den jetzt „rückgängig“ zu machenden Ministerpräsidentenwahlen in Thüringen wurden zunächst die SPD und die Grünen aufgefordert, einen eigenen Kandidaten aufzustellen, um den „Kommunisten“ zu verhindern. Dabei drehten sie ein Argument der Linken um: Ramelow hatte vor dieser Wahl die CDU und die FDP aufgefordert, „staatspolitische Verantwortung“ zu übernehmen und ihn mitzuwählen. Nun forderte die CDU-Führung von den Sozialdemokraten und den Grünen „staatspolitische Verantwortung“, indem sie einen nicht-linken Ministerpräsidenten-Kandidaten präsentieren. Das war natürlich ebenfalls wieder völliger Mumpitz – erstens hatten beide bereits ein neues Regierungsprogramm mit der Linken vereinbart. Und zweitens kommen CDU, SPD und Grüne gemeinsam auf lediglich 34 Sitze, was eine noch schwächere Minderheitsregierung wäre als Rot-Rot-Grün. Die Sozialdemokraten und die Grünen lehnten daher empört ab.

Die nächste Runde war, dass die CDU in Thüringen eine kurzzeitige Übergangsregierung unter der früheren CDU-Ministerpräsidentin Christine Lieberknecht ablehnte, was Bodo Ramelow als Kompromissvariante angeboten hatte, augenscheinlich weil sie bei rasch kommenden Landtagswahlen nach all dem Theater nochmals zehn Prozent Wähler verlieren würde – was sie auf Hamburger Verhältnisse zurückstutzen würde.

Dann kam es doch zu einer Lösungsvariante, nachdem Rot-Rot-Grün und die CDU in Thüringen zusammengesessen hatten: einige CDU-Abgeordnete wählen Ramelow mit, der agiert aber mit einer Übergangsregierung und im April 2021 gibt es Neuwahlen. Nun wiederum trat CDU-Generalsekretär Paul Ziemiak in Aktion. Er erklärte: „Die Abgeordneten im Landtag von Thüringen sind nach der Verfassung frei. Aber alle Mitglieder der CDU Deutschland sind an die Beschlüsse des Bundesparteitages gebunden.“ Das ist wieder eine Position des Verfassungsbruchs der CDU, denn Ziemiak verlangt das imperative Mandat: dass also die Partei oder ein Teil der Wählerschaft von ihren Abgeordneten ein bestimmtes Abstimmungsverhalten verlangen können. Die Rechtsordnung der BRD aber schließt das ausdrücklich aus.

Hier könnte man Überlegungen darüber anstellen, inwieweit Ziemiaks polnische Herkunft dabei eine Rolle spielt; seine aggresiv antikommunistische Position gegen Bodo Ramelow passte eher zu Jarosław Kaczyńskis Partei „Recht und Gerechtigkeit“ und ihrem hysterischen Antikommunismus. Allerdings weist der Publizist Götz Aly darauf hin, dass dies in der Ignoranz der „Herrenreiter“ der West-CDU gegenüber den Problemen Ostdeutschlands begründet liege. Er schlägt vor, die ostdeutschen Verbände der CDU sollten aus der Bundes-CDU austreten und eine eigene Partei bilden, die nur im Osten zu Wahlen antritt, wie die CSU in Bayern. Dann hätten sie keine Vormundschaft des Bundes über sich und könnten nach der Wahl trotzdem gemeinsam mit der West-CDU und der CSU eine Fraktionsgemeinschaft im Bundestag bilden, Minister stellen und Politik nach eigenem Gusto machen. Das wäre ja mal eine interessante neue Variante. Aber dazu gehörte mehr Mut, als das derzeitige CDU-Personal im Osten aufbringen kann.