23. Jahrgang | Nummer 2 | 20. Januar 2020

Zu Besuch bei Hauptmanns, etwas abseits des Weges

von Wolfgang Brauer

Eines Tages“, erinnert sich Gerhart Hauptmann, „erblickte ich bei einer Gebirgspartie von oben her dieses Tal […] Entzückt und begeistert stieg ich […] durch Wälder und über Wiesenpfade hinab und hatte binnen weniger Stunden das Bauernhaus mit dazugehörigen Ländereien, Grasflächen, Buchenhainen und Quellen käuflich an mich gebracht.“ Das war 1890. Das Bauernhaus nebst zugehörigem Wiesen- und Ackerland steht in Mittel-Schreiberhau. Heute befindet sich in ihm das „Dom Carla i Gerharta Hauptmannów“, eine Zweigstelle des Riesengebirgsmuseums Jelenia Góra.

Ganz so einfach, wie der Dichter erzählt, war die Sache aber nicht. Vor dem Einzug musste umgebaut werden, so wurde ein zweites Geschoss eingezogen. Das Haus gehörte ihm nicht allein, es war eine gemeinsame Erwerbung mit Bruder Carl. Beide hatten wenige Jahre zuvor die Schwestern Thienemann geheiratet. Carl 1884 Martha und Gerhart ein Jahr später die leicht exzentrische Marie. Finanziell waren die Eheschließungen vorteilhaft. Vater der Schwestern war der Dresdner Wollgroßhändler Berthold Thienemann. Von dessen finanzieller Potenz kann man noch heute beim Betrachten seiner Villa in den Radebeuler Weinbergen – einst befand sich das Puppentheatermuseum der Dresdner Kunstsammlungen dort – einen kleinen Eindruck gewinnen. Jedenfalls standen nach dem Schreiberhauer Umbau zehn Zimmer und zwei Küchen zur Verfügung. Carl und Martha wohnten oben, Bruder und Schwägerin im unteren Geschoss.

Gerhart zog bereits 1895 wieder aus – vorausgegangen waren sowohl ein tiefgehendes Zerwürfnis mit dem Bruder als auch das Scheitern der eigenen Ehe, bedingt nicht zuletzt durch eine tiefe Liebesbeziehung zur Schauspielerin Margarethe Marschalk. Ab 1901 bewohnen die beiden das Haus Wiesenstein im benachbarten Agnetendorf. Zur Scheidung kommt es aber erst 1904. 1908 geht auch Carls Ehe endgültig in die Brüche. Die erste Krise zwischen ihm und Frau Martha hatte schon Spuren in Gerhart Hauptmanns Drama „Einsame Menschen“ (1890) hinterlassen. Inwiefern das Auswirkungen auf die häusliche Atmosphäre im Schreiberhauer Bauernhaus hat, sei dahingestellt. Der Streit mit dem Bruder war aber auch künstlerisch bedingt. Carl, studierter Philosoph und Naturwissenschaftler – Schüler Ernst Haeckels und führender Vertreter des Monistenbundes – sucht auch als Schriftsteller und Dramatiker Lorbeeren zu erwerben. Die Literaturhistoriker sind sich nicht recht einig, wer von beiden Brüdern wen stärker beeinflusste. Eberhard Hilscher gelangt immerhin in seiner bis heute beispielsetzenden Gerhart-Hauptmann-Biografie (1987) zu einem bemerkenswerten Urteil: Carl sei „ein schöpferischer und seinem Bruder in vielem ebenbürtiger Schriftsteller“.

In Schreiberhau fließen aus der Feder Gerharts große Teile der „Weber“, auch die Komödie „Der Biberpelz“ entsteht hier und nicht in Erkner bei Berlin. Von den zahlreichen Schriften Carls – der Archiv-Bestand in der Berliner Akademie der Künste umfasst immerhin 17,5 laufende Meter – ist vermutlich sein „Rübezahlbuch“ (1915) das bis heute bekannteste.

Dem Berggeist („Duch Gór“) ist das Erdgeschoss des liebevoll eingerichteten Carl-und Gerhart-Hauptmann-Hauses gewidmet. Rübezahl ist genaugenommen ein Spottname, man sollte sich hüten, ihn im Reich des Berggeistes auszusprechen. Der Kerl ist launisch. „Warum der unheimliche Zauberunhold Rübezahl heißt, weiß niemand zu sagen. Wer soll wissen, warum einer Trillhose oder Apfelstiel oder Sautrog heißt, der als ein leibhaftiger, ehrenfester Schuhflicker die steinigen Bergwege wandert? Sicher ist nur, daß das Riesengebirge schon vor Zeiten weltberufen hieß, weil Rübezahl in dessen Höhlen und Gruben und Schluchten und auf dessen Hochmooren und Geröllhalden sein Wesen trieb.“ (Carl Hauptmann)

Wunderschön sind die Glasfenster des Erdgeschosses. Der Wrocławer Künstler Jacek Jarczewski schuf sie 2003. Sie zeigen den Berggeist in vielerlei Gestalt – und in der wärmeren Jahreszeit sollte man sich keinesfalls den „Berggeist-Park“ des Hauses sparen. Wer mit Kindern unterwegs ist, kommt da sowieso nicht drumherum. Der Park ist eine zauberhafte Märchen- und Spielwelt.

Auf dem Weg zur Parktür kommt man an einer auf den ersten Blick etwas aufdringlich erscheinenden Jugendstilkeramik vorbei. Es handelt sich um das von Hans Poelzig 1921 geschaffene Grabdenkmal für Carl Hauptmann. Hauptmann liegt auf dem ehemaligen evangelischen Friedhof in Nieder-Schreiberhau. Das Grabmal wurde in den 1960er und 1980er Jahren zerstört. Die Arbeit im Garten des Museums ist eine Replik der Werkstätten für Denkmalpflege Torun. Auf dem Friedhof selbst befindet sich inzwischen eine neue Grabplatte mit deutscher und polnischer Inschrift.

Das ist das Bemerkenswerte an diesem Hause: Hier ist sinnlich erfahrbar, wie schwierig und letzten Endes doch äußerst fruchtbar die Bemühungen der niederschlesischen Kulturpolitik und Denkmalpflege um die Annahme und positive Auseinandersetzung mit dem deutschen Erbe der Zeit vor 1945 sind.

Im Obergeschoss des Hauses werden überaus wirkungsvoll inszenierte Riesengebirgslandschaften der 1920er und 1930er Jahre aus der Sammlung des Museums von Jelenia Gora gezeigt – und diese Galerie geht in ihrer Hängung über in eine Abteilung, die jungen und jüngsten Künstlern der Region Raum bietet. Deren Arbeiten müssen wiederum den ausdrucksstarken Bildern des polnischen Symbolisten Vlastimil Hofmann standhalten, der von 1947 bis zu seinem Tod 1970 zurückgezogen in Szklarska Poręba lebte und arbeitete. Hofmann, mit einer jüdischen Frau verheiratet, flüchtete 1939 nach Palästina. Mir geht sein „Selbstporträt mit fliegenden Störchen“ (1943) sehr nahe. Der Künstler steht am Strand des Mittelmeeres und sieht voller Wehmut den in die Heimat zurückfliegenden Störchen nach.

Die beiden Räume daneben sind den Hauptmanns gewidmet. Gleichsam ein Fingerzeig auf die Geschichte des Hauses ist eine kleine Porträtfotografie einer jungen Frau, die unübersehbar auf dem mit einer Häkeldecke belegten Wohnzimmertisch platziert ist: Martha Thienemann …

Das Haus übt eine seltsame Faszination aus. Wahrscheinlich hat doch der „Duch Gór“ – wir wollen seinen Namen nicht nennen – die Finger im Spiel.

Dom Carla i Gerharta Hauptmannów, ul. 11 Listopada 23, Szklarska Poręba, täglich außer montags 9.00 Uhr bis 16.00 Uhr geöffnet.