In Moskau treffen sich zwei sehr erfahrene Politologen. Fragt einer den anderen: „Was geht geschieht im Land?“ Der antwortet: „Das werde ich Dir erklären.“ Der Fragesteller erwidert: „Nein, erklären musst Du das nicht. Was passiert?“
Mit diesem derzeit kursierenden Wortwechsel versucht Konstantin Remtschukow, Chefredakteur der Njesawissimaja Gasjeta, russische Befindlichkeiten nach der Verfassungsoffensive des Präsidenten Wladimir Putin zu charakterisieren. „Genaue Kenntnisse hat niemand“, vertraut er in der Sendung „Besondere Meinung“ des Radiosenders Echo Moskwy den Zuhörern an. Seiner Meinung nach gehe es Putin – „diesem nüchternen, klugen und erfahrenen Menschen“ – um zwei Dinge. Er denke über die Nachfolge nach und vertraue nicht auf persönliche Garantien. So habe er sich entschieden, „institutionelle oder verfassungsmäßige Garantien zu schaffen, dass es einem einzelnen Menschen äußerst schwer fallen wird, die ganze Pyramide umzustürzen“.
An deren Spitze – und damit im Zentrum der Diskussion – steht weiterhin ein starker Präsident. Mit der Begrenzung auf zwei Amtszeiten wäre für Wladimir Putin, der dann bereits zweimal zwei absolvierte, im Jahre 2024 Schluss. Dass die Zählung von Amtszeiten mit einer veränderten Verfassung von vorne beginnen könnte, weil sie ja geändert sei, ist eine eher formallogische Variante besonders gewiefter Disputanten. Auch die Übernahme einer Oberaufsicht vermittels des mit größeren Vollmachten versehenen Staatsrates, weist Putin zurück.
Das übrigens nicht ganz so neue Gremium war erstmals von Zar Alexander I. im Jahre 1810 einberufen und 1917 vom Rat der Volkskommissare wieder aufgelöst worden. Vor nunmehr 20 Jahren wurde der Staatsrat wieder zum Leben erweckt, und er kam trotz aller Aufregung über eine angebliche Verlagerung der Macht nicht über eine beratende Funktion hinaus. Jetzt soll seine Existenz in der Verfassung – das meint „Verfassungsrang“ – festgeschrieben und seine „Rolle gestärkt“ werden. Das Gremium aus zentralen Spitzenpolitikern und Provinzchefs solle „Hauptlinien der Innen- und Außenpolitik“ bestimmen, heißt es eher vage. Die wirklichen Vollmachten seien noch per Gesetz zu bestimmen.
Für ein derart großes Land mit so vielen Religionen und Nationalitäten brauche es „die starke Macht eines Präsidenten“, beschied Putin jüngst bei einem Besuch in Lipezk eine Bürgerrunde. Doppelherrschaft beschädige nur das höchste Amt. In einem Moskauer Expertengespräch des Institutes für Soziale Initiativen war ein halbes Dutzend Politologen sich einig, der aus dem Amt scheidende Putin wolle vor allem verhindern, dass seine Nachfolge an „irgendeinen Dummkopf“ gehe. Eben deshalb solle die Macht nicht in den Händen einer einzigen Person liegen, sondern an verschiedene voneinander abhängige Zentren gehen.
Seit den von der Staatsduma rasch in erster Lesung verabschiedeten Vorschlägen des Amtsinhabers zur Verfassung beeilen sich nun vor allem höhere Amtsträger, Minister und Abgeordnete mit der Versicherung, weder einen ausländischen Pass noch eine ständige Aufenthaltserlaubnis oder auch nur Eigentum anderswo zu besitzen. Dann wäre ihnen der Weg in den Kreml und sogar ihre bisherigen Ämter versperrt. Im Föderationsrat, so beeilte sich Wjatscheslaw Timtschenko als dessen Kommissionschef für Fragen des Reglements „voll verantwortlich und offiziell mitzuteilen“, habe niemand einen fremden Pass oder ein entsprechendes Dokument.
Auch die schon im Amte um keine Antwort verlegene Sprecherin des Außenministeriums, Maria Sacharowa, sah sich auf ihrer Facebook-Seite zur Klarstellung nach Art eines polizeilichen Führungszeugnisses genötigt: „Weder ich noch meine Familie, einschließlich des Ehemannes, der Tochter, der Eltern, der Eltern der Eltern, haben und hatten eine ausländische Staatsbürgerschaft. Niemals. Für Niemanden.“ Auch über eine ständige Aufenthaltserlaubnis im Ausland verfüge sie nicht und die Tochter sei nicht in den USA, sondern einem Moskauer Krankenhaus zu Welt gekommen. Solche Aufregung war vom Autor der Änderungen und seinen Zuarbeitern wohl kaum gewünscht.
Damit nicht genug, bedurfte es noch einer Klarstellung des Artikels 77. Danach würden die Festlegungen zu besonderer Sesshaftigkeit in der russischen Heimat nicht die Bürger der Krim betreffen. Sie sind mit der Umschreibung von „Bürgern der Russischen Föderation“ gemeint, „die früher die Staatsbürgerschaft eines Staates hatten, der entsprechend dem föderalen Verfassungsgesetz ganz oder teilweise in die Russische Föderation aufgenommen wurde […] und die ständig auf dem Gebiet des Staates leben, der in die Russische Föderation aufgenommen wurde oder des Territoriums, das von der RF als Teil des Staates aufgenommen wurde.“
Was treue Parteigänger des Präsidenten als Stärkung der vaterländischen Elite deuten, ist für andere Beobachter eher gegen Michail Chodorkowski, den im Londoner Exil lebenden Gegner von Putins „gelenkter Demokratie“, und andere ins Ausland getriebene oder entwichene Oligarchen und Systemkritiker gerichtet. Ihnen werde der Weg in höhere und höchste Staatsämter versperrt.
Auf Nebenwirkungen macht Maxim Rewa im Internetportal regnum aufmerksam. So würde Russen ihr passives Wahlrecht genommen. Dabei sei es normal, mehrere Jahre in verschiedenen Ländern zu leben, zu arbeiten, deren Kultur und Lebensweise zu studieren. Russland verfüge über eine große Diaspora in der ganzen Welt, die überwältigende Mehrheit ihrer Angehörigen sei patriotisch – sie könnten mit ihrem Wissen, ihrem Unternehmen und Erfahrungen zurückkehren. Doch nun würden sie zu Bürgern zweiter Klasse erklärt. Der quasi offizielle Rechtsaußen der russischen Opposition setzt hingegen noch einen drauf. LDPR-Chef Wladimir Schirinowski wirbt unverblümt für Sippenhaft. Kinder aus dem betroffenen Personenkreis sollten im Ausland auch nicht lernen: „Sie können dort leicht von Geheimdiensten bedrängt und leicht zu Agenten gemacht werden.“
Obwohl in der Debatte solche Worte wie „vielleicht“, „vermutlich“, „wahrscheinlich“ und „möglicherweise“ vorherrschen, warf der Oppositionelle Alexej Nawalny seinem Widersacher Putin einmal mehr vor, die „lebenslange Führerschaft“ in Russland anzustreben. Deutsche Medien geben sich ebenfalls sicher und schon traditionell misstrauisch. Die Frankfurter Allgemeine weiß unter der Schlagzeile „Macht für die Ewigkeit“ längst: „Die eigentliche Intention der Veränderungen ist für jeden offensichtlich: Putin soll unbegrenzt lange an der Macht bleiben, und diese soll uneingeschränkt sein.“ Die Süddeutsche Zeitung pflegt ihr Misstrauen gegen Putin und dessen „gewohnte Rücksichtslosigkeit“. Dieser schaffe neue Möglichkeiten – für sich selbst. „Deswegen verteilt er Einfluss um, weg vom Präsidenten, und schwächt damit potenzielle Nachfolger.“ Die Staatsduma soll, zumindest auf dem Papier, mehr entscheiden dürfen, ebenso wie der Föderationsrat, die zweite Kammer im Parlament. Der Deutschlandfunk anerkennt immerhin einen „geplante(n) Machttransfer an das Parlament“, mäkelt aber, dass der „wenig überzeugend“ wirke. Zwar biete er theoretisch die „Möglichkeit, politischen Wettbewerb zu fördern und das autokratische Russland eine Spur demokratischer zu machen“, aber das bleibe erst mal nur Theorie.
Nicht all die vorgeschlagenen Veränderungen müssen jedoch für Russlands Demokratie zwangsläufig von Schaden sein. Die von Boris Jelzin auf sich und seine unbeschränkte Präsidialmacht zugeschnittene Verfassung vom 12. Dezember 1993 war dessen endgültiger Triumph über ein unbotmäßiges Parlament. Dazu hatte es vorher dessen Auflösung per Dekret und eines Beschusses des Weißen Hauses in Moskau durch Panzer bedurft.
Sein Nachfolger hat die neue Verfassung nur übernommen, sie auch mit einigen Änderungen und Ergänzungen versehen. In diesem Jahr 2020 will er dem Parlament etwas Macht und Einfluss zurück erstatten. So kann der Präsident künftig nicht mehr „seinen“ Regierungschef dem Parlament zur Abstimmung präsentieren, er muss den von den Abgeordneten bestimmten Premier und dessen Minister bestätigen. Ihm bleibt nur die Möglichkeit, sie zu entlassen – mit einer tragfähigen Begründung. Man stelle sich vor, dies hätte bereits in der Jelzinschen Verfassung gestanden und wäre von Putin jetzt auf die Streichliste gesetzt worden. Welch ein Schlag gegen die Demokratie würde jetzt allgemein beklagt
Mit der Nachfolge regelt Wladimir Putin zugleich seinen Nachlass. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion geriet Russland in den 1990er Jahren an den Rand des Abgrundes. Von dort führte er es zurück in Stabilität, wirtschaftliche Erholung und – trotz aller Rückschläge und Sanktionen – auch als ernst zu nehmenden Faktor zurück in die internationale Arena. Mit nationalen Projekten und Milliarden-Investitionen sollen auch die Lebensbedingungen der Bürger verbessert und die Armut zurückgedrängt werden. Auch das versteht Putin als sein Lebenswerk. Das will er als Hausherr in sichere Hände und Strukturen geben. Dafür bleiben ihm immerhin noch rund vier Jahre (Amts-)Zeit.
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