23. Jahrgang | Nummer 2 | 20. Januar 2020

Märchenhaft – eine Weihnachtsnachlese

von Wolfram Adolphi

Weihnachtszeit ist Märchenzeit. Und in Deutschland – märchenhaft! – auch Zeit der DDR. Denn um und um sonnen sich die Fernsehstationen im Glanz der unsterblichen Märchenfilme jenes kleineren der beiden deutschen Nachkriegsstaaten, der sonst bei jeder anderen Gelegenheit gar nicht laut genug mit immer neuem Tritt und Nachtritt in den Orkus befördert werden kann.

Was für eine Inkonsequenz! Wozu das ganze Jahr über all das immer gleiche, nicht zur Ruhe kommende Gedröhn über den Unrechtsstaat, wenn zu Weihnachten dann doch wieder dessen infamste Propagandaergüsse Urständ feiern dürfen? Denn das sind sie doch, diese Märchenfilme: infame Propaganda, bezahlt vom Regime, produziert von bestochenen Regisseuren, willfährigen Kameraleuten und ebensolchen Schauspielern und in die Kinos sowie auf die Bildschirme gebracht von Zentralapparaten, deren einzige Aufgabe es war, die Kinder vom ersten Atemzug an auf Linie zu bringen.

Oder etwa nicht? – Oh doch! Jetzt bloß nicht klein beigeben! Natürlich waren diese Filme ein ganz besonders wichtiger, mit besonders viel Sorgfalt betriebener Zweig der gesellschaftlichen Kindererziehung! Um den sich – weil der Staat ihnen mit Geld, Studios und reichlich Zeit für künstlerische Freiheit und Gewissenhaftigkeit zur Hand ging – viele der absoluten Spitzenkräfte aus Film, Fernsehen und Schauspielerei mit außerordentlicher Hingabe verdient gemacht haben. Was denn sonst? Anders hätten sie doch niemals Kult werden können, all die Kleinen Mucks und Kalten Herzen und Drosselbartkönige und Schneeweißchen und Rosenrot und Drei Haselnüsse.

Ein Dilemma. Zweifellos. Die durch und durch vom humanistischen Menschenbild durchdrungenen Märchenfilme des Unrechtsstaats. Die ebenso wie das Sandmännchen – diese weitere Inkarnation unrechtsstaatlicher Bildungs- und Erziehungspolitik – fortleben in Millionen Kinder- und Erwachsenenherzen. Man könnte daraus …

Ja: mancherlei Schlussfolgerung ziehen. Hinsichtlich der Interessantheit, Mannigfaltigkeit und Vielfarbigkeit der Entwicklung der DDR und ihrer gesellschaftlichen Konzepte. Und natürlich hinsichtlich ihrer – wie wäre es in einer Gesellschaft je anders gewesen! – Widersprüchlichkeit. Die ausgerechnet im Märchenfilm einen ebenso spannenden wie zu Herzen gehenden Ausdruck findet. Und das könnte dann ein Türöffner sein für den bisher erst nur in der Diaspora erkennbaren, aber noch lange nicht im Mainstream angekommenen Beginn einer DDR-Geschichtsschreibung, die diesen Namen tatsächlich verdient.

Man könnte.

Aber man kann auch anders. Nämlich einfach eine gesamtdeutsche Geschichte konstruieren, in der das Dilemma sich stillschweigend in Luft auflöst. Begriffen habe ich das am 28. Dezember beim Versunkensein in die Märchenfilmfolge des RBB – des Rundfunks Berlin-Brandenburg – an diesem Tag. Zuerst „Die Goldene Gans“ von 1964. Karin Ugowski, die unvergleichlich zarte, ist die Königstochter. Immer durfte sie die Königstochter sein. Auch im „König Drosselbart“ mit Manfred Krug. Und unsereins durfte dahinschmelzen vor so viel Blond und zauberhaftem Störrischsein.

Nun wollte ich mich aber noch einmal kundig machen über die Filme der Ugowski und ihr Vor- und Nach-der-Wende-Leben – und traf auf einen Wikipedia-Eintrag, der tatsächlich ganz ohne DDR auskommt. In Berlin-Johannisthal, erfahre ich, ist sie aufgewachsen. In Potsdam-Babelsberg hat sie 1962-65 Schauspiel studiert – „an der Hochschule für Film und Fernsehen ‚Konrad Wolf‘“ steht da geschrieben, das ist ein bisschen vorgegriffen, den Namen erhielt die Hochschule erst 1985, aber sei’s drum –, und sie wurde „noch vor Beendigung ihres Schauspielstudiums […] für weibliche Hauptrollen in Märchenkinofilmen der DEFA verpflichtet“. Diese Filme – so heißt es weiter – „gelten heute als Rarität deutscher Filmgeschichte“ und „werden jährlich zur Weihnachtszeit im deutschen Fernsehen wiederholt“.

„Raritäten deutscher Filmgeschichte“. Falsch ist das nicht. Wirklich nicht. Aber so richtig „richtig“ will es sich auch nicht fügen. Ein Dilemma eben. Wenn die Wahrheit so widerspenstig ist.

Nach der „Goldenen Gans“ kam „Der Hasenhüter“. Der Film ist von 1977, die Hauptrolle spielt Jan Spitzer. Auch er ist Wikipedia zufolge ein „deutscher Schauspieler“, in dessen Lebenslauf und Filmografie die drei Buchstaben DDR getrost ausgeblendet bleiben dürfen. Märchenhafte Bedeutungslosigkeit. Im „Abschied“, einer „Verfilmung des gleichnamigen Romans von Johannes R. Becher“, hat er – so lese ich – 1967/68 „schon als Schauspielstudent die Hauptrolle“ gespielt. Ich weiß. Der Film war Pflichtfilm damals für unsere 12. Klasse. In der DDR. Ganz aufstörend. Heiß diskutiert. Und Becher erst! Expressionist, Kommunist, Stalinist, unvergleichlicher Kulturminister. Der DDR, natürlich. Muss hier alles nicht rein, in diesen Beitrag. Verstehe ich schon. Märchenhafte Einfalt. – Spitzer, lese ich weiter, „hatte Engagements an Schauspielstätten in Altenburg, Halle, Schwerin, am Deutschen Theater Berlin sowie am Volkstheater München und dem Berliner Ensemble“. Märchenhafte Zeitlosigkeit.

Nach dem „Hasenhüter“ folgte „Schneeweißchen und Rosenrot“. Ich suche bei Wikipedia die „Rosenrot“-Darstellerin Katrin Martin, und nur, weil ich weiß, dass Luckau, Rostock und Neustrelitz in der DDR lagen, vermag ich zu erkennen, dass auch diese „deutsche Schauspielerin“ irgendwie dorthin gehört haben muss.

Es ist verzwickt mit dem Unrechtsstaat. Er vermag sich auf märchenhafte Weise den Lebensläufen der konkreten Menschen zu entheben. Beziehungsweise diese Lebensläufe von sich abzutrennen. In märchenhafter Entscheidung darüber, bei wem das geht und bei wem nicht.

Nicht gehen tut es zum Beispiel bei den paar Dutzend noch lebenden Menschen, die ihren Doktortitel an der Juristischen Hochschule der DDR-Staatssicherheit erworben haben und dies jetzt – so jedenfalls will es der oberste Stasiaktensachwalter Roland Jahn – bei Nennung ihres Titels stets angeben müssen.

Alles klar?

Keineswegs.

Denn mitten hinein in die Märchenfilme überrascht uns Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble (Dr. jur. BRD) mit der Überlegung, die Ostdeutschen mögen doch bitte selbstbewusster werden und ihren Erfahrungsvorsprung in Sachen Umbruchbewältigung und so zur Geltung bringen.

Märchenhafte Läuterung?

Der Mann war – als damaliger BRD-Innenminister – einer der Hauptkonstrukteure des fälschlich „Einigungsvertrag“ genannten Anschlusspapiers von 1990, mithin einer der wichtigsten Akteure der umfassenden und nachhaltigen Delegitimierung der DDR.

Warum jetzt sein Umsteuern?

Und wen konkret betreffend – und wen nicht?

Das bleibt im Dunkeln.

Märchenhaft.