23. Jahrgang | Nummer 1 | 6. Januar 2020

Zeit für Gundermann in Europa

von Henry-Martin Klemt

Es ist an der Zeit für Gundermanns Lieder. Für seine einzigartige Poetik, in der sich Vorstellung, Verantwortung und Vision verbinden, seine Weltschau, die auf Versöhnung des Menschen mit dem Menschen und des Menschen mit der Natur – auch seiner eigenen – zielt, seine sinnlichen, märchenhaften und zupackenden Bilder, seine Vermittlung zwischen den Generationen und ihre unterschiedlich erfahrenen Wirklichkeiten, für seinen Anspruch, „Tankstelle für Verlierer“ zu sein, über den er vor allem in seinen letzten Lebensjahren mit seinen Liedern hinauswuchs. Das alles mag undenkbar sein ohne die Lausitzer Kohlelandschaft, ohne das intensive Wechselspiel mit einem lebenshungrigen Publikum, ohne die Geschichte von Emanzipation und Befreiung sowieso, aber es macht nicht Halt an Landesgrenzen. Gerade weil Gerhard Gundermann auch ein Heimat-Dichter war, also jemand, der Heimat sowohl entdeckte, als auch erfand. Und seine Heimat musste so groß sein, dass sie am Ende für alle reicht. Deshalb gehören Gundermanns Lieder nach Europa.

Diese Idee lag auch einem Projekt zu Grunde, dem sich der Verein Gundermanns Seilschaft (Deutschland) gemeinsam mit der Stichting Holländerei (Niederlande) und dem Stowarzyszenie Literacko Muzyczne „Ballada“ (Polen) gewidmet haben. „Gundermanns Lieder in Europa“ war Kultur-Symposium, Nachdichterwerkstatt und CD-Produktion in einem.

Die 17 Beteiligten machten wichtige Lieder Gundermanns zugänglich in anderen Sprachräumen: englisch, französisch, russisch, niederländisch, italienisch, polnisch, tschechisch, schwedisch, spanisch, niedersorbisch und plattdeutsch. Das gemeinsame Album unter dem Titel „Mit ’nem Lied fang ich erst mal an“ verbanden sie mit einem Begleitband, der neben Noten, Interlinearübersetzungen und Nachdichtungen auch Vorträge und das Diskussionsprotokoll der internationalen Liederwerkstatt enthält, die von der Kulturstiftung des Landes Sachsen, der Rosa-Luxemburg-Stiftung und dem Ministerium für Wissenschaft, Forschung und Kultur des Landes Brandenburg gefördert wurde.

Das Buch verrät: Die Künstler mussten sich nicht nur ästhetischen, sondern auch sozialen, historischen und politischen Fragen stellen, weil sie zum Handwerk des Nachdichtens gehören, wie Diete Oudesluijs und Johan Meijer (Niederlande) sehr eindrucksvoll beschreiben. Bis zu der Fähigkeit hin, Wichtiges, das „zwischen die Zeilen“ geschrieben ist, herauszulesen, wenn man in einem anderen System sozialisiert wurde. Dabei wird nicht nur eine Poetik neuentdeckt. Auch ihr Schöpfer gewinnt aus anderer Perspektive eine neue Dimension. So versteht David Robb (Queen’s University Belfast) die Lieder Gundermanns als „Beispiel eines proletarischen Rollenspiels“ – im Kontext etwa mit Ernst Busch, Franz Josef Degenhardt oder Rio Reiser – das identitätsstiftend wirkt.

Manfred Maurenbrecher, Liederdichter und Romancier, absolvierte mit Gundermann in den neunziger Jahren knapp zwei Dutzend Konzerte. Er erinnert sich: „Wir haben mal ganz lange ein Gespräch über die Vorstellung geführt, dass vielleicht alle Menschen Teil eines Körpers sind und dass das Ziel dieser Gattung sein könnte, dieses eine Wesen darzustellen und sich überhaupt dazu zu finden.“ Um zu wissen, dass sich hinter dieser Idee kein pseudokommunistischer Kollektivismus verbirgt, muss man weder Gundermann noch Maurenbrecher kennen. Es genügt, ein paar Teile der Serie „Dr. Who“ anzusehen oder, für die Älteren, „Raumschiff Enterprise“.

Die Idee ist überall dort latent im Spiel, wo nach einer allgemeingültigen Ethik, einem die eigenen Interessen überschreitenden Bewusstsein vom Wesen der Welt gesucht wird – oder nach einer theistischen oder pantheistischen Antwort auf die Frage, ob es im Universum eine höhere Ordnung, ein höheres Prinzip gibt, das alle Natur miteinander verbindet. Ihre aktuellen Entsprechungen hat diese Frage, wenn es um die Integration Fremder geht, um Inklusion, um Chancengleichheit, aber auch um Chancen und Grenzen der Demokratie, die Maurenbrecher zur Sprache bringt.

Wer seine Texte umstellt von solchen Fragen schreibt, braucht, wenn sie etwas taugen, nicht zu fürchten, so schnell an Aktualität zu verlieren, auch dann nicht, wenn er schon mehr als zwanzig Jahre tot ist. Er braucht nur „a little help“ von seinen Freunden. Es ist Zeit für Gundermann in Europa.

Mit ’nem Lied fang ich erst mal an – Gundermanns Lieder in Europa – Internationales Liedprojekt, Buch und CD, 136 Seiten, Buschfunk 2019, 136 Seiten / 17 Songs, 17,00 Euro.