von Joachim Lange
Vorweihnachten in Wien. Mit einer erschwinglichen Wochenkarte ist man mobil – Eintrittskarten sind geordert. Bei manchen Ausstellungen braucht’s neuerdings noch eine separate für einen Timeslot. Oder besser: für ein Zeitfenster. Das Kunsthistorische Museum, links am Weg vom Heldenplatz zum Museumsquartier, ist da besonders marketingtüchtig. Neulich mit Brueghel und heuer mit einer Begegnung von Werken Carravagios und Berninis. Wirklich den Atem verschlägt einem aber, wenn man gleich hinter der Staatsoper, in der Albertina, ohne Timeslot, dafür aber in einem Riesengedränge, vor dem Original von Albrecht Dürers „Rasenstück“ oder vor seinem „Feldhasen“ steht und auch sonst über die Vielfalt dieses Genies staunt! Immer eine gute Empfehlung ist das Untere Belvedere. Diesmal kann man in den Prunksälen des Prinzen Eugen Leben und Werk des in Wien geborenen Malers Wolfgang Paalen (1905–1959) kennenlernen und bestaunen …
Ausstellungen sind in Wien das Tagesprogramm, bevor man am Abend vorbei an den Weihnachtsmärkten in die Opern- und Theaterszene eintaucht.
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Diesmal liefert die Wiener Staatsoper – was sie nicht allzu oft macht – sogar eine großformatige Uraufführung. Die Österreicherin Olga Neuwirth lässt es zu einer Geschichte à la Virginia Woolfs MannFrau „Orlando“ so richtig krachen. Im wahrsten Wortsinn mit dem Staatsopern-Orchester, das ihr Kollege Matthias Pintscher als Dirigent fulminant durch die Zeitläufte navigiert. Die enden freilich, anders als bei Woolf, nicht 1928, sondern in der unmittelbaren Gegenwart, gar digitalen Zukunft. Mit einem Personal von fast 30 Rollen versucht Neuwirth alle Übel dieser Welt zu benennen und zu attackieren und riskiert damit beinahe eine Bruchlandung im allzu Plakativen. Wäre da nicht die Kostümshow des japanischen Labels Comme Des Garcons, mit dessen Kreationen sich auch einige Fans im Publikum aufgestylt hatten und Hof hielten. Vor allem aber die Musik der Neuwirth. Die hält ihr Niveau, ist spannend und packt mit ihrer Übermalung von Zitiertem aller Epochen.
Das zweite, kleinere, aber in den letzten Jahren allemal spannendere Opernhaus, das Theater an der Wien, hält mit der Ausgrabung von Stanisław Moniuszkos Oper „Halka“ dagegen. Schon lange wollte man den polnischen Tenorstar Piotr Beczała ans Haus locken. Der singt längst überall die großen Partien seines Fachs und rettete vor zwei Jahren den Bayreuther „Lohengrin“ durch sein kurzfristiges Einspringen. Zu einer Rolle in Moniuszkos polnischem Nationalheiligtum konnte er nicht Nein sagen. Also bringt sich das vom reichen Liebhaber verlassene einfache Mädchen Halka erstmals auf einer Wiener Bühne um. So kommt das Publikum in den Genuss der großartig aufrauschenden Musik des Polen, die hierzulande und auch in Österreich kaum jemand kennt. Was nur am eigenen begrenzten Horizont und nicht an der mitreißenden Durchschlagskraft der Musik aus dem Jahr 1858 liegt. Der polnische Regisseur Mariusz Trelinski hat diese Koproduktion mit Warschau 200 Jahre näher an uns und in ein 70er-Jahre-Hotel nach Zakopane ver- und damit den beziehungstechnisch allgemeingültigen Kern der Geschichte bloßgelegt. Diese Oper ist repertoiretauglich und wäre eine Bereicherung für viele Theater. Auch wenn die nicht gleich die polnischen Superstars Beczała und Tomasz Koniecny als Gegenspieler aufzubieten hätten.
An Offenbach-Operetten gibt es keinen Nachholbedarf. Im ausklingenden Jubiläumsjahr flogen reichlich die Beine zum Cancan. Sein „König Karotte“ ist jedoch ein selten zu sehendes Unikum. Was die Volksoper am Währinger Gürtel hier (als Koproduktion mit Hannover) aufbietet, ist eine Mordsgaudi, die nicht nur wegen der genialen Musik, sondern auch in einer klug eingedampften deutschen Textversion fabelhaft funktioniert. Die Vorstellung, dass eine Karotte eine Weile die Macht im Staate übernimmt, hat mehr auf uns anspielenden politischen Witz (bekommen) als uns lieb sein kann. Die Namen Boris und Donald fallen denn auch irgendwann, ohne dass es gleich platt wird. Dieser Offenbach ist eine gekonnte Satire auf die Politik seiner Zeit, die erstaunlich lebendig daherkommt. Und eine Mischung aus Zauberoper, Science-Fiction und Show. Man (zeit)reist nach Pompeji, landet im Reich der Ameisen, es gibt eine böse Hexe, eine berechnende Braut und einen Prinzen, der am Ende zur Vernunft kommt und das Ruder wieder übernimmt. Was wirklich verblüfft, ist der revolutionäre Eifer, bei dem Offenbach weder Beethoven- noch Marseillaise-Anspielungen scheut, wenn das wütende Volk das herrschende Gemüse abserviert. So deutlich blitzt das subversive Potential der Operette auch nicht immer auf!
Am Burgtheater regiert der neue Hausherr Martin Kusej. Die sprichwörtlichen „Burgschauspieler“ sind für jeden neuen Burgherrn Erbteil und Kapital. Peter Simonischek ist einer von ihnen. In einer anderen Reihenfolge als in Deutschland schaut man beim Burgtheater eh zuerst, wer spielt, dann, welches Stück auf dem Programm steht, und erst zuletzt, wer die Regie führt. Also: Er ist Afzal in Awad Akhars „The Who and the What“ – ein neueres Stück vom Autor des preisgekrönten Erfolgs „Geächtet“. Es taucht wieder in die Probleme von muslimischen Migranten ein, bei denen Versuche von Anpassung mit der Tradition kollidieren. Akhar gelingt erneut ein Mix aus boulevardesker Leichtigkeit und Empathie, bei dem man etwas lernt, niemand bloßgestellt wird und hinter allem immer der Mensch hervorscheint. Der aus Pakistan stammende, zu Wohlstand gekommene Papa schafft es, seine emanzipierte, religionskritische Tochter Zarina (Aenne Schwarz) tatsächlich mit einem Konvertiten (Philipp Hauß) zu verheiraten, und ist dann entsetzt über den Gender-Roman, den sie über den Propheten (als Mensch und Mann) schreibt …
Bei Regisseur Felix Prader ein kurzweiliges Kammerspiel mit viel Witz und Herz. Und mit einem Simonischek zum Niederknien.
Bleiben noch das Volkstheater und das Theater in der Josefstadt. Die erfüllten diesmal beide mit ihren gerade herausgekommenen Neuproduktionen nicht vorgefasste Erwartungen.
Überraschend frisch ist Regisseur Martin Knuhr der neue „Peer Gynt“ im Volkstheater geraten. Das ist so klug eingedampft und aufs szenisch Wesentliche reduziert, dass es durchweg Spaß macht, dem notorischen Lügner in dreifacher Gestalt (Jan Thümer, Nils Hohehövel, Günter Franzmeier) bei seiner Weltvermessung zu folgen.
Wer freilich der Einladung von Amélie Niermeyer in Anton Tschechows „Kirschgarten“ in die Josefstadt folgte, der wurde enttäuscht. Die deutsche Regisseurin traute der Faszination von Tschechows zelebrierter Langeweile als Gesellschaftsdiagnose nicht wirklich über den Weg. Sie überließ allzu oft englischen Songs (wieso eigentlich nicht russischen?) das Atmosphärische. Das Personal verfrachtete sie eher in eine Datscha und nicht auf das metaphorische russische Landgut, das die weltfremden Besitzer leichtsinnig dem proletenhaften Aufsteiger überlassen müssen. Die Regie setzt auf Tempo, die meisten reden mehr um des Redens willen und verlieren dabei an Profil. Was freilich wie ein im doppelten Sinne aus der Zeit gefallenes Faszinosum wirkt, ist die Theaterikone Otto Schenk. Er verkörpert den alten Lakaien Firs, den sie am Ende bei der Abreise einfach vergessen. Bei Tschechow ist er mit 87 Jahren noch zwei Jahre jünger als der leibhaftige Otto Schenk. Der veredelt den Abend zwar mit seiner Mimenkunst, aber auch er schafft es nicht, einen großen Tschechow-Abend aus dem „Kirschgarten“ zu machen. Da bleibt schon die Platonov-Inszenierung von Alvis Hermanis vor acht Jahren im Akademietheater der Maßstab. Da konnte man stundenlang den Russen von ehedem beim Leben zuschauen und von Tschechow etwas über die Menschen von heute erfahren.
Übrigens ist Melange in Wien eine Art Kaffee mit Schlagobers. Den besten gibt es sinnigerweise im Aida. Natürlich nicht in der Oper, sondern in einem der vielen Cafés der Kette gleichen Namens. Wer sich vom gewöhnungsbedürftigen Farbdesign nicht abschrecken lässt, der kriegt hier den besten Kaffee, wenn nicht der Welt, so doch von Wien serviert.
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