23. Jahrgang | Nummer 1 | 6. Januar 2020

Verborgene Biografien – Anna Louisa Karsch und Anton Bruckner

von Wolfgang Brauer

Diese Dichterin hat einfach nur Pech gehabt. Zwei gescheiterte Ehen. Die erste mit einem prügelnden Mann, der sie als Dienstmagd hielt und nach zehn Jahren Ehe und vier Kindern zur Mutter zurückjagte. Die zweite mit einem versoffenen Schneider, auch er gewalttätig, dem sie weitere drei Geburten verdankte und den sie nur loswurde, weil ein befreundeter Festungskommandant in Glogau/Niederschlesien den Kerl auf ihre Bitte hin zwangsrekrutierte. Fridericus Rex führte gerade seinen Dritten Schlesischen Krieg, den Siebenjährigen, und hatte enormen Verschleiß an Soldaten. Da war sie als Poetin schon eine regionale Berühmtheit. Ihre Lobgedichte auf Friedrich II. machten sie landesweit bekannt. Bis dahin dichtete sie gleichsam aus dem Bauch heraus Gelegenheitslyrik für Geburtstage, Kindstaufen, Hochzeiten, Sterbefälle.

Für das 18. Jahrhundert war das keine Schande – immerhin gelang es ihr mit dieser Art von Poesie zur ersten deutschen Dichterin zu werden, die von ihrem Schreiben mehr schlecht als recht aber dennoch leben konnte. Johann Wilhelm Ludwig Gleim, der große Netzwerker und Begabtenförderer der deutschen Aufklärung, ernannte sie schließlich zur „deutschen Sappho“. Er wurde der dritte Mann in ihrem Leben, sie verzehrte sich physisch und poetisch nach ihm – aber Gleim hielt sie an der langen Leine. Ihn interessierte weniger die Frau als vielmehr die Poetin. Immerhin gab er 1764 ihre einzige zu Lebzeiten erschienene große Sammlung „Auserlesene Gedichte“ heraus, in die er wiederum ihre stärksten Texte nicht aufnahm. Die ließ er im eigenen Schreibtisch schmoren. Die deutsche Sappho war selbst am preußischen Hofe hochgeschätzt. Der König höchstderoselbst versprach ihr, die immer – wenn sie nicht gerade einige Zeit bei vermögenden Förderern unterkam – in ärmlichsten Verhältnissen hauste, ein Haus in Berlin zu finanzieren. Aber der Kerl war knauserig und außerdem pleite. Es reichte geradeso für das Potsdamer Neue Palais …

Die Rede ist von Anna Louisa Karsch, der „Karschin“, eine der spannendsten und bis auf den heutigen Tag wahrscheinlich verkanntesten deutschsprachigen Dichterpersönlichkeiten des 18. Jahrhunderts. Zu den wenigen, die die Originalität ihres poetischen Naturtalentes inmitten der vielen Kunstblumen anakreontischer Spielereien erkannten, gehörte Herder. Er meinte, wenn man ihre Gedichte „als Gemälde der Einbildungskraft betrachtet: so haben sie wegen ihrer vielen originalen Züge mehr Verdienst um die Erweckung deutscher Genies als viele Oden nach regelmäßigem Schnitt.“ Das ging gegen Karl Wilhelm Ramler, aber auch Gleim und selbst Klopstock mussten sich auf den Schlips getreten fühlen. Ich setze „Dichterpersönlichkeit“ bewusst in der männlichen Form. Die Karschin stieß mit geradezu brachialer Gewalt in eine seinerzeitige Männerdomäne vor – die Dichtkunst. Selbst im 19. Jahrhundert wurden Frauen in dieser Branche von den literarischen Platzhirschen kaum geduldet.

Wenn sich eine Dichterinnen-Biographie zum Schreiben eines Romans geradezu aufdrängt, so ist es die der Anna Louisa Karsch. Waltraud Naumann-Beyer hat ihn geschrieben, und man spürt die Leidenschaft, mit der sie den Spuren ihrer Protagonistin folgt. Ihr Buch bezeichnet sie als „Romanbiografie“, ein understatement. Es handelt sich um eine solide recherchierte und ausgesprochen gut lesbare Biografie. Naumann-Beyer räumt ein, dass für die prägenden Lebensjahre der Dichterin kaum verlässliche Quellen zur Verfügung stehen. Die autobiographischen Texte und die Lebensbeschreibung der Tochter Caroline von Klencke sind inzwischen leicht zugänglich, aber mit Vorsicht zu genießen. Also ersetzt die Autorin die Fehlstellen durch Fiktion und kulturhistorische Exkurse vor allem über die Lebenssituation von Frauen aus den unteren Volksschichten in der Mitte des 18. Jahrhunderts. Das ist lesenswert und macht es uns leicht, einige zu schwülstig geratene Stellen zu überlesen. Die verschwinden vollkommen mit dem Auftauchen der 33-jährigen Dichterin im Jahre 1761 in Berlin. Ab hier gelingt es Waltraud Naumann-Beyer aus den biographisch belegbaren Fakten und den Gedichten der Karschin ein Amalgam zu schmelzen, das den Rezensenten bis zur letzten Seite nicht mehr losgelassen hat. Insbesondere die Geschichte der gescheiterten Liebe zu Gleim ist packend erzählt.

Ein eigenes Haus konnte die Dichterin 1789 noch beziehen. Das steht sogar noch, ganz in der Nähe des Hackeschen Marktes in Berlin. Finanziert hat es ihr der bigotte Lotterkönig Friedrich Wilhelm II., der es mit der schönen Gräfin Lichtenau hatte. Die Freude daran vergällte ihr allerdings in den zwei ihr noch verbliebenen Lebensjahren das vollkommen vergiftete Verhältnis zur Tochter Caroline. Am Schluss ihres Buches zitiert Waltraud Naumann-Beyer Heinrich Heines „Deutschland, ein Wintermärchen“. Dem begegnet träumend im Caput XVI Kaiser Barbarossa und erkundigt sich – nach der Karschin … Des Dichters Antwort: „Die alte Karschin ist gleichfalls tot, / Auch die Tochter ist tot, die Klencke; / Helmine Chézy, die Enkelin, / Ist noch am Leben, ich denke.“ Ja, von der Chézy würde ich gerne lesen. Waltraud Naumann-Beyer deutet an, deren Leben sei es wert, „einmal ernstlich beschrieben zu werden“. Ich lese das als Ankündigung und bin gespannt.

Waltraud Naumann-Beyer: „Ein Thier, was Verse macht …“ Das Leben der Dichterin Anna Louisa Karsch, genannt „Die Karschin“, NORA Verlagsgemeinschaft, Berlin 2019, 400 Seiten, 29,00 Euro.

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Beethoven ist schuld. Spätestens seit den fünf heftigen Schlägen an das Tor des Schicksals in seiner „Fünften“ wittern wir hinter den Klangbögen der Sinfonik des 19. Jahrhunderts in der Regel eine Art „Heiligenstädter Testament“ – zumindest aber eine äußerst unglücklich verlaufene erotische Affaire des Komponisten. Was wäre die musikerklärende Literatur ohne die diversen „Durch-Nacht-zum-Licht-Storys“! Allerdings ist das Licht ziemlich langweilig. Uns interessieren eher die Geschichten der Nacht. Und ausgerechnet der Komponist, dessen wuchtige Klangbilder mit von kaum einem anderen erreichter Spannkraft der Sinfonik den Weg in das 20. Jahrhundert bereiteten, ausgerechnet der verweigert uns den Einblick in die Tiefen der Künstlerseele. Es geht um Anton Bruckner (1824–1896). Über den wurden inzwischen halbe Bibliotheken vollgeschrieben, aber über die Persönlichkeit dieser Jahrhunderterscheinung wissen wir so gut wie nichts. Die Musikwissenschaftlerin Elisabeth Maier nennt ihre 2001 erschienene zweibändige Dokumentensammlung daher „Verborgene Persönlichkeit“. Hans-Joachim Hinrichsen, Ordinarius für Musikwissenschaft an der Universität Zürich meint, die Brucknersche Zurückhaltung der eigenen Biografie gegenüber sei „für die biografische Forschung nichts Geringeres als ein Skandal“. Ich bin mir nicht sicher, ob er das nur ironisch meint.

Anton Bruckner war ein frommer Mensch, der tief im Katholizismus wurzelte. Wir wissen von seiner geradezu mönchischen Lebensweise. Wir wissen auch, dass er junge Mädchen mochte und immer wieder einigermaßen steife Werbungsversuche veranstaltete: „Er hat nur ein junges, fesches Mäderl auf der Straße sehen müssen, und schon war’s um ihn geschehen.“ Mit ebenso sturer Regelmäßigkeit gingen Bruckners Bemühungen um die zumeist sehr, sehr jungen Frauen schief. Im Werk bildet sich das gar nicht, in der Biografik fast überhaupt nicht ab.

Diese Lücke versucht jetzt der Linzer Autor Friedrich Buchmayr zu schließen. Er lässt durch den ersten Biografen Bruckners, den „einzig autorisierten“ August Göllerich – von 1922 bis 1937 erschien sein von Max Auer vollendetes vierbändiges „Lebensbild“ –, eine Art Zeitzeugen-Kolloquium zum Thema „Bruckner und die Frauen“ einberufen. Natürlich treten alle tatsächlich oder vermeintlich Angebeteten auf, dazu Freunde und Feinde Bruckners, Schüler, Künstlerkollegen, Kultusbeamte, selbst das heutige Bundesdenkmalamt der Alpenrepublik darf sein Scherflein beisteuern. Das obige Zitat legt Buchmayr übrigens Bruckners langjähriger Haushälterin Katharina Kachelmayr in den Mund – die ist keine autorisierte Biografin, hat aber eine durchaus begründete Meinung. Am Ende lässt der Autor den Göllerich entnervt das Handtuch werfen. Das Künstlerleben will einfach nicht den Vorstellungen des Biografen entsprechen. Für den ist auch die Mitteilung, dass Anton Bruckner vorgehabt habe, seine 8. Sinfonie (1887) „einem Fräulein aus jüdischem Hause zu widmen […] eine ungeheuerliche Behauptung“. Die „Achte“ ist Kaiser Franz Joseph I. gewidmet. Buchmayrs Kunstgriff – er lässt 75 Personen auftreten – erweist sich als glücklich. Die Facetten der durchaus nicht problemlosen Biografie Anton Bruckners werden sichtbar, wir erfahren Einiges über die kulturelle Grundierung Österreichs. Das ist nicht immer schön, aber spannend zu lesen. Und trägt schlussendlich auch zu einem tieferen Verständnis Brucknerscher Musik bei. Im Beethoven-Jahr 2020 betrachte ich das als einen Gewinn.

Ach ja, Bruckner … „Warum hat man es verabsäumt, Anton Bruckner selbst einzuladen?“ Mit dieser offenen Frage schließt der überaus lesenswerte „wissenschaftliche Roman“.

Friedrich Buchmayr: Mensch Bruckner! Der Komponist und die Frauen. Mit einer Ouvertüre von Hans-Joachim Hinrichsen, Müry Salzmann Verlag , Salzburg und Wien 2019, 336 Seiten, 28,00 Euro.