von Reinhard Wengierek
Meine Fundstücke im Kunstgestrüpp: Diesmal Klettergerüst nebst Campingliegen sowie die Herberge „Zum Alten Kontinent“ …
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Selten sah man ihn, doch da ist er wieder: der resedagrüne Samtvorhang der Kammerspiele von Berlins Deutschem Theater. Ganz sacht teilt er sich – ein Erlebnis: Dann gähnt ein schwarzes Loch, die Bühne. Nebelschwaden wallen, Blitze zucken, ein schweres Gewitter naht, entlädt sich krachend. Es gleicht dem Wortgewitter der Elfriede Jelinek.
Sie schleuderte es – einem Zeus gleich – vor drei Jahrzehnten schon aufs Papier; 18 Druckseiten. Eine monologische Wortmasse namens „Wolken. Heim.“. – Ein frühes, ein genialisches Stück Postdramatik. Keine Szenen, keine Figuren, sondern eine gigantische Collage aus Zitaten von Hölderlin, Hegel, Heidegger, Kleist, Fichte bis hin zur RAF.
Da säuselt und seufzt, wispert und wütet es und donnert nach Kräften vom deutschen Wesen und Wollen, vom deutschen Boden, dem deutschen Heim bis hinauf in den Himmel und also vom großen deutschen Wir mit seinen Dichtern, Denkern, Kriegern, Hausfrauen.
Jelineks Zitaten-Singsang vom Glückschmieden und Glückzerstören, vom Sehnsüchtig-, Traurig- und Totsein gleicht einem wolkigen Grummeln der Gemütlichkeit, aus dem plötzlich die unheimliche Lust lodert, die Welt zu umarmen oder – Heim und Heimeligkeit beiseite – sie wacker zu überrennen und sich einzuverleiben. Und zwar ins ganz große deutsche Wir. – „Wir sind zuhaus, wo wir hinwandeln zwischen Himmel und Erd und unter den Völkern das erste…“
Zurück zum Anfang: Das Gewitter vorbei, lieblicher Kunstrasen grünt, fünf Liegestühle künden von Schrebergartengemütlichkeit für ein entspanntes Wir-Kollektiv: Edgar Eckert, Lorena Handschin, Holger Stockhaus, Birgit Unterweger und Regine Zimmermann in froschgrün glitzernden Freizeitanzügen (Kostüm: Aino Laberenz). „Wir sind ganz bei uns… Hier sind wir zuhaus.“
Schöner Beginn der manischen Wir-Beschwörung, in deren Dahinfluss unsere flotten fünf den Text sich teilen: Also mal chorisch, mal solistisch. So viel zur Hin-und-Her-Fantasie des Regisseurs Martin Laberenz. Doch die sich dummerweise in den Pointen verheddernde 80-Minuten-Rederei (die Souffleuse Simona Wanko musste fleißig aushelfen), die wird nicht toller, als man eine in Folie verpackte Statue hereinschleppt (Wer? Germania?). Um sie dann in der Ecke stehen zu lassen. Doch flugs tritt die Brigade Bühnenarbeiter auf und baut lärmend einen Sperrholzturm auf die Drehbühne. Aha, ein Klettergerüst (Bühne: Bettina Pommer). Das sorgt für Action, für sportives Runter und Rauf und für wenigstens ein kleines Stück hoch hinaus aus den Niederungen der Camping-Liege.
Immerhin, zum Kommentar wurde der Turmbau zu Berlin im Finale, als Lorena Handschin vom Gipfel „Mont Klamott“ schmettert, den schönen Song der Ost-Band Silly über den Berliner Weltkriegstrümmerschutt, der im Stadtbezirk Friedrichshain zum Berg wuchs.
Vor der Premiere verlautbarte der Regisseur, er wolle aus der Sprache heraus etwas kreieren. Dieses Etwas ist nun kaum mehr als nichts. Dem Vorspiel-Gewitter folgte nur laue Luft.
Da muss man einfach an Jossi Wielers Coup in Hamburg anno 1994 erinnern. Dort erdete der Regisseur das philosophisch hoch segelnde „Wolken. Heim.“ durch Erfindung eines psychologisch konkretisierten Figurenpersonals, teilte das Text-Konvolut auf in „Rollen“. Die übernahm ein Damen-Sextett, residierend in einem Wehrmachtsbunker. Sechs Weiber – ohne Gatten, verheiratet nicht mit dem deutschen Mann, sondern mit der deutschen Misere. Frappierend verkörperten sie den deutschen Wahn zwischen Idylle und Exzess. So wuchs „Wolken. Heim.“ vom Selbstbeschau- und Warn-Stück unversehens hinaus zur packenden Nationalkomödie (oder Groteske). – Tja; damals war’s …
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Und der Regen, der Regen, der rinnt. Rinnt unaufhörlich in der Berliner Schaubühne hinein in eine tief spätherbstliche Düsternis sowie ein elend vernachlässigtes Hotel, das ein undichtes Dach hat und kaum noch Gäste. Die Herberge „Zum alten Kontinent“ weitab vom Schuss in der französischen Provinz, drei Kilometer durchs Dickicht bis zum nächsten Dorf, sie gehört dem Cognac-Fass Alda – Jule Böwe bemitleidenswert versoffen, störrisch und zerbrechlich, aber kraftvoll fatalistisch nölend über alles einschließlich ihres Unglücklichseins. Gelegentlich kocht Wut in ihr hoch, doch permanent ist die Feindschaft mit Ehemann René (Kay Bartholomäus Schulze). Allein der Böwe wegen lohnt dieser Seltsamkeitsabend.
Was für ein gespenstisch mit ausgestopftem Getier garniertes, ungastliches Gehäuse. Und alsbald wird klar: Im nach allen Regeln des Horrorfilms gebauten Bühnenbild von Christophe Engels und Karolien de Schepper steht ein Haus des Grauens. Und Anne-Cécile Vandalems an der Schaubühne uraufgeführtes, im Jahr 2023 spielendes Stück „Die Anderen“ ist ein fürchterliches Schauerspektakel.
Da irrlichtert eine schwermütig singende Schreckens-Schamanin mit ausgestopftem Fuchskopf auf der Perücke (Ruth Rosenfeld); da ist von Kindern die Rede, doch nirgends sind welche, es gibt tödliche Unfälle, doch keine Toten sind zu finden. Ein schwer verletzter Flüchtling (Bernardo Arias Porras) taucht auf aus einem Lager, wird verpflegt, ausgenutzt, gedemütigt, weggesperrt. Ein Ensemble prima neurotischer Figuren (Stephanie Eidt, Felix Römer, Lukas Turtur/David Ruhland, Ruth Rosenfeld) stolpert des Wegs, karrt im Auto nicht unfallfrei durch den Wald, dreht hysterisch auf, dann durch und wir ahnen es: Sie alle hier schleppen irgendein vermutlich schlimmes Geheimnis mit sich.
Schließlich kommt eine Sozialarbeiterin des besagten ominösen Lagers (Veronika Bachfischer) von weither aus der Stadt ins Hotel „Zum Alten Kontinent“, um nach dem Flüchtling zu forschen. Und allmählich dämmert Licht in die Finsternis: Es ist elf Jahre her, als ein terroristisches Verbrechen sowie ein Akt blutiger Selbstjustiz aus der traumatisierten Dorfgemeinschaft eine von Hass zerfressene Opfer-Täter-Gesellschaft formte, die archaische Rache-Rituale krampfhaft zusammenklebt. Mehr dazu sei nicht verraten, um dem artifiziellen, auch geschickt mittels Video hyperrealistisch inszenierten Thriller nicht die ekelhafte Pointe zu nehmen.
Wir bestaunen ein mit probaten Mitteln gemachtes Illusionstheater, das zugleich desillusionierend wirkt. Ohne korrekte Zeigefingerei wird unaufdringlich begreiflich: Das Bedrohliche, Angstmachende verursachen nicht allein die anderen, die Herein- und auf uns zu Kommenden. Vielmehr sitzt und wuchert es bis hin ins Verbrecherische in uns selbst, die wir uns daheim womöglich so geborgen fühlen. Selbst im entlegensten Idyll wurzelt und keimt das roh Zerstörerische, werden nur Vernunft und ungestillte Sehnsucht nach Glück kräftig unterminiert von verdrängter Schuld und wucherndem Irrsinn.
Kenner wissen um die belgische Autorin, Schauspielerin und Regisseurin Anne-Cécile Vandalem seit 2017, als sie mit ihrem Stück „Tristesse“ beim Schaubühnen-F.I.N.D.-Festival gastierte; das gleichfalls horrible Zustände gruselig illuminiert. Die befinden sich auf einer dänischen Insel, deren Bewohner – wie jetzt am französischen Un-Ort – in Ängste, Depressionen, Schuld und Gewalt versinken. Dabei liegt das Besondere der Autorin darin, dass sie gewitzt spielt mit Schauerromantik und Horrorgroteske, mit Video und schauspielerischem „Overacting“ und noch dazu hintersinnig witzige Dialoge findet, aber auch nicht spart mit intelligent gesetzten Mythologie-Verweisen.
Bei allem Entsetzen sind „Die Anderen“ toll gemachtes Theater-Kino, bestes Schauspieler-Theater. Wobei leider nicht zu übersehen ist, dass die selbst mitspielende Regisseurin ihr Timing vernachlässigt. Zwischendurch nämlich schleppt sich das Zelebrieren der Düsternis und Unheimlichkeit. Und Liebhaber des Metiers ahnen alsbald, auf was das dramatische Konstrukt hinausläuft – auch wenn das Finale dann ordentlich schockt. Doch gerade das kommt nicht rüber wie der präzise Schuss aus der Pistole, sondern wie einer aus der Schrotflinte; also leicht verrutscht. Da könnte die Regisseurin noch üben im Zielen.
Trotzdem: Ätzend melancholisches, hintergründig züngelndes Höllen-Theater mit klassisch schlichtem Motto feiner Unterhaltung: Das Böse ist immer und überall. – Gottseidank ist bald Heiligabend: Frohe Weihnachten!
Schlagwörter: Anne-Cécile Vandalem, Deutsches Theater, Elfriede Jelinek, Martin Laberenz, Reinhard Wengierek, Schaubühne