von Dieter Naumann
Eigentlich sollte die der Erholung dienende Rügenreise im August 1886 in die Sommerfrische nach Thiessow führen. Da ihre Koffer irrtümlich fehlgeleitet wurden, landete Adelaide Caroline Luise Gräfin Schimmelmann, 1854 in Ahrensburg (Holstein, damals Dänemark) geboren als fünftes von später elf Kindern des durch Sklavenhandel vermögend gewordenen Ernst Conrad Detlev Carl Joseph Lehnsgraf von Schimmelmann, jedoch in Göhren. Ihre Unterkunft ist unbekannt, doch einiges spricht für „Wendts Hotel“, dessen Gästebuch allerdings erst ab Juli 1887 geführt wurde. Zu jener Zeit hätten außerdem noch „Brandenburgs Hotel“, 1879 durch Friedrich Wilhelm Heinrich Brandenburg erbaut, das 1882 durch Martin Looks errichtete „Hotel Nordperd“ und „Borgmeyers Hotel“ (1885?) zur Verfügung gestanden, neben einer Reihe von Villen und Logierhäusern.
Die Schimmelmann hatte bei einem Vortrag des Bremer Pastors und Schriftstellers Otto Funke dessen Kritik am Müßiggang vieler Frauen und Jungfrauen der „höheren Stände“ gehört. Zugleich hatte Funke darauf hingewiesen, dass auch Damen ein Missionswerk übernehmen könnten. Fortan bestimmte die religiös motivierte Missionstätigkeit ihr weiteres Leben, so auch den Aufenthalt auf Rügen.
Vorausgegangen war eine Beobachtung: Von ihrem Quartier aus sah die Gräfin, wie ein Trupp Fischer „nach rührenden Versuchen, sich durch Bürsten der Jacken und Stiefel ein sonntägliches Aussehen zu geben, von Hotel zu Hotel, von Haus zu Haus zog, bescheiden um Lebensmittel bittend, für die sie auch gern bezahlen wollten. Aber überall wurden sie abgewiesen und kamen hungernd zurück […] Ich, die ich bisher von Hunger und Kummer nur aus Büchern gehört hatte, wurde durch diese Erfahrung tief ergriffen.“ Nur der frühere Händler und Postfahrer Friedrich Wendt öffnete den Fremden seinen um 1870 errichteten Gasthof. Dabei waren die meist von Usedom stammenden Lachs- und Heringsfischer früher relativ freundlich behandelt worden, durften in den Ställen der Einwohner schlafen und wurden zu fairen Preisen mit Lebensmitteln versorgt. Hintergrund war, dass die Fischer mit ihren Booten oft weit auf die offene See fahren mussten, da viele küstennahe Bereiche verpachtet waren. Dabei lebten und übernachteten sie auf dem offenen Deck der Boote, die meistens gar keine oder nur eine kleine Kajüte hatten. Wer sich ein bescheidenes warmes Mahl kochen konnte, war gut bedient. Die anderen mussten versuchen, an Land etwas zu erbitten, oder sie suchten Trost im Alkohol. Mit der Entwicklung Göhrens zum Badeort weigerten sich die Einwohner, etwas mit den rauen Fremden zu tun zu haben, die sie als Last empfanden, zumal sich einige nun auch gewaltsam nahmen, was sie für ihr Überleben brauchten. Nur in den Kneipen waren sie noch willkommen, hier ließen sie ihr Geld.
1887 erwarb die Gräfin ein etwa ein Hektar großes Grundstück oberhalb des Göhrener Südstrandes und erbaute darauf das „Seemannsheim“ mit einfachen Nachtlagern für 50 Personen, einer Küche, in der eine freundliche Mönchguterin kochte, und einem Aufenthaltsraum. Dafür erhielt sie sogar Unterstützung aus dem Kaiserhaus. Das letzte Geschenk der Kaiserin Augusta, bei der die Schimmelmann 1872 bis 1890 Hofdame war, seien 200 Bibeln für ihre Fischer gewesen, schrieb sie 1898 in „Streiflichter aus meinem Leben am deutschen Hofe, unter baltischen Fischern und Berliner Socialisten und im Gefängnis“. Für die Göhrener, die anfangs über Spannungen und handgreifliche Auseinandersetzungen mit den fremden Fischern klagten, ergaben sich durch das Heim sogar Verbesserungen, weil der Alkoholkonsum zurückging und damit auch entsprechende Delikte und Streitereien nachließen. Die fremden Fischer, mit denen sie sich plattdeutsch unterhielt, nannten die Gräfin bald „unsere Mutter“. Nur die Hoteliers standen dem Projekt feindselig gegenüber, weil sie teilweise existenzbedrohende Einbußen hinnehmen mussten.
Bald stellte die Schimmelmann fest, „dass die uns gegenüberliegende Greifswalder Oie mit ihren zwei Schnapslokalen alles wieder verdarb, was meine Fischerstube Gutes wirkte“, und errichtete 1889 auch dort ein Seemannsheim in einem gepachteten Gebäude, das bis 1894 in ihrem Besitz blieb. Im ersten Jahr wurden ihre Gebäude auf der Oie niedergebrannt, sie erbaute jedoch ein neues Haus. 1891 folgte in Crampas bei Sassnitz ein weiteres, von einem Verein betriebenes Heim, womit die Gräfin jedoch nicht zufrieden war, da das Haus in „ein schönes Hotel für Badegäste“ umgewandelt worden sei. Tatsächlich zeigt eine Fotografie um 1900 vor dem Haus herausgeputzte Personen, die augenscheinlich keine Seeleute waren. „Eingang Fischer und sonstige Seeleute“ stand auf einem unscheinbaren Schild am Giebel des Hauses, während über dem Haupteingang auf ein Restaurant verwiesen wurde.
Beginnend mit dem Jahre 1893 geriet das Unternehmen in die Krise, weil die Aktivitäten der Gräfin ihre finanziellen Möglichkeiten überstiegen. Als die Schimmelmann begann, ererbten Familienschmuck zu veräußern, und ihr Testament zugunsten ihrer Adoptivsöhne änderte, griff die Familie ein. Zwar können gesundheitliche Bedenken wegen des Lebenswandels der Gräfin nicht gänzlich ausgeschlossen werden, im Vordergrund dürfte jedoch die Sorge um das Erbe gestanden haben. Man lockte die Schimmelmann nach Kopenhagen, wo sie auf Veranlassung des in Dänemark bekannten Psychiaters und Klinikchefs Knud Pontoppidan als angeblich seit neun Jahren geisteskrank von Februar bis April 1894 in die geschlossene Psychiatrische Abteilung des Kommunehospitals gesteckt wurde. Als Freunde sie dort fanden, hatte Dänemark seinen Skandal, der nicht nur in den Zeitungen, sondern sogar im dänischen Reichstag diskutiert wurde. Klinikchef Pontoppidan verließ auf Grund des öffentlichen Drucks die Klinik, wechselte später sogar die Fachrichtung und lehrte ab 1901 als Professor für Rechtsmedizin.
Diese Ereignisse hatten das Wirken der Gräfin in die Weltpresse gebracht. Sie trat in Versammlungen von oft tausenden Menschen auf, schrieb Traktate, eröffnete weitere Seemannsheime, darunter in Kiel, gründete 1896 die „Gräfin Schimmelmannsche internationale Seemannsmission“ mit der Zeitschrift Leuchtfeuer, hielt Vorträge, die sie bis nach England und in die Vereinigten Staaten führten. Jetzt erhielt sie auch Spenden von Mitgliedern des europäischen Hochadels, unter anderem von Herzogin Vera von Württemberg und Großherzogin Marie von Mecklenburg-Schwerin, und Vertretern anderer Stände. Auch zu ungewöhnlichen Finanzierungsmethoden griff sie: So berichtete das Rügensche Kreis- und Anzeigeblatt vom 1. August 1904 aus Baabe, die Gräfin habe sich „hierorts angekauft […] und zahlt statt des Kaufgeldes dem Besitzer eine Leibrente von 400 Mark auf Lebenszeit“. Nur die Kirche blieb auf Distanz. Einzelne Pfarrer griffen sie gar scharf an unter dem Motto „Das Weib schweige in der Gemeinde“. Gräfin Schimmelmann starb 1913 völlig verarmt an einem Krebsleiden in Hamburg.
Das Göhrener Fischerheim wurde bald nach ihrem Tod geschlossen, später wurde das Gelände parzelliert und bebaut. Das Heim auf der Greifswalder Oie hatte die Gräfin nach ihrer Entlassung aus der Psychiatrie 1895 nicht wieder eröffnet, ein Berliner Verein „Seemannsheim“ betrieb dort eine zeitweilige Bleibe im Haus des früheren Pächters Vahl. In den 1960er Jahren wurden die Gebäude abgerissen. Das Heim in Crampas/Sassnitz ist heute Wohnhaus (Seestraße 21).
Zu Lebzeiten durch Bücher und Zeitschriften bekannt gemacht, wurde die Gräfin je nach Standpunkt des Betrachters als Wohltäterin oder als verschwenderisch, übertrieben religiös und auch verrückt bezeichnet. Die 2011 von einem Autorenkollektiv veröffentlichte umfangreiche Lebensgeschichte der Schimmelmann ([…] adlig, fromm, exzentrisch) resümiert in der Einleitung: „Aus dem Abstand von etwa hundert Jahren erscheint es heute lohnenswert, ihre Person und ihr Werk als ein Element im Gesamtbild der kaiserlichen Frömmigkeits-, Sozial- und Gendergeschichte neu zu betrachten.“
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