23. Jahrgang | Nummer 1 | 6. Januar 2020

„Gedichte der Stille“

von Renate Hoffmann

Weil es ringsherum so laut hergeht, sehnt man sich nach Stille. Fast ein Unding im Tageswirbel. Wer kann schon in der Geschäftigkeit der Stunde alles aus der Hand legen, den umgebenden Lärm vergessen lassen und dem Vogelflug vor dem Fenster nachschauen oder einer Mittagswolke? Clara Paul gab nun – zur Unterstützung – das Vademekum der Stille heraus. Eine Gedichtsammlung. Klein, fein und eindringlich. Sie ist gleichzeitig ein Plädoyer für die Lyrik. (Es müssen für den Anfang nicht unbedingt Schillers Balladen sein!)

Rainer Maria Rilke (1874–1926), der Empfindsame, fragt klagend: „Wenn es nur einmal so ganz stille wäre. / Wenn das Zufällige und Ungefähre / verstummte und das nachbarliche Lachen, / wenn das Geräusch, das meine Sinne machen, / mich nicht so sehr verhinderte am Wachen …“ (Wenn es nur einmal so ganz stille wäre) – Stille und Ruhe sind miteinander verwandt. Ein jeder sucht sie an anderen Orten. In der Natur, fern der großen Städte; unter dem Abendhimmel oder am Meer. Rainer Malkowski (1939–2003) fand die wohltuende Ruhe bei einem Spaziergang am Flussufer: „Ich saß auf Steinen, / mit denen mir die Zeit / nicht lang wurde. / Es ist leichter, als du glaubst, / die Sprache des Wassers zu erraten …“ (Ein Nachmittag am Fluss) – Um die Stille in Worte zu kleiden, wählten Christian Morgenstern (1871–1914) und Mascha Kaléko (1912–1975) als Vergleich die Fische. Der Dichter: „Es war ein solcher Vormittag, / wo man die Fische singen hörte; / kein Lüftchen lief, kein Stimmchen, störte, / kein Wellchen wölbte sich zum Schlag …“ (Vormittag am Strand) – Die Dichterin: „Wenn Fische reden könnten! Na ich danke: / Man hörte von der Donau bis zu Panke / statt Meeresstille und statt Wellenrauschen / Nur Muscheln tuscheln und Karauschen plauschen … / Jedoch (welch weise Fügung!), / sie sind stumm. / – Was die Natur betrifft: die weiß, warum.“ (Fische) – Das kleinste Detail, auch die Betrachtung eines Bildes vermögen es, Ruhe und Ausgewogenheit zu verbreiten – sofern man seine Sinne dafür offenhält: „Das kleine Haus unter den Bäumen am See. / Vom Dach steigt Rauch. / Fehlte er / Wie trostlos wären / Haus, Bäume und See.“ (Bertolt Brecht, 1898–1956: Der Rauch) – Wislawa Szymborska (1923–2012) geht ins Amsterdamer Rijksmuseum und findet dort vor dem Gemälde des Jan Vermeer van Delft („Dienstmagd mit dem Milchkrug“) Trost über den Weltschmerz: „Solange diese Frau aus dem Rijksmusem / in der gemalten Stille und Andacht / Tag für Tag Milch / aus dem Krug in die Schüssel gießt, / verdient die Welt / keinen Weltuntergang.“ (Vermeer) – Paul Celan (1920–1970) begibt sich sogar in himmlische Gefilde: „das Jüngste Gericht / verdammt / seine Posaunen.“ (Erstiegene Stille) Von Joachim Ringelnatz (1883–1934) stammt wohl die beste Empfehlung, die auch der Sammlung den Namen gibt: „Träume deine Träume in Ruh …“ (Psst!) – Doch das schönste aller Gedichte, die der Stille huldigen, ist die Mondnacht von Joseph von Eichendorff (1788–1857): „Es war, als hätt der Himmel / Die Erde still geküsst, / Dass sie im Blütenschimmer / Von ihm nun träumen müsst. // Die Luft ging durch die Felder, / Die Ähren wogten sacht, / Es rauschten leis die Wälder, / So sternklar war die Nacht. // Und meine Seele spannte / Weit ihre Flügel aus, / Flog durch die stillen Lande, / Als flöge sie nach Haus.“ – Vor dem inneren Auge erstehen Bilder von Caspar David Friedrich, und man hört Robert Schumanns Vertonung.

Das nachtblaue Buch im Kleinformat vereint weitere Autoren, die sich irgendwann einmal wünschten, der Unruhe der Welt entfliehen zu können. Zu ihnen gehören, neben anderen: Gottfried Benn, Rose Ausländer, Robert Gernhardt, Conrad Ferdinand Meyer, Eva Strittmatter.

Wer in dem Bändchen blättert, wird sich fühlen wie Theodor Fontane zur Mittagsstunde an einem Sommertag: „Am Waldessaume träumt die Föhre, / Am Himmel weiße Wölkchen nur; / Es ist so still, dass ich sie höre, / Die tiefe Stille der Natur …“

Clara Paul (Hrsgn.): „Träume deine Träume in Ruh“. Gedichte der Stille, Insel-Verlag, Berlin 2019, 75 Seiten, 8,00 Euro.