22. Jahrgang | Nummer 26 | 23. Dezember 2019

Die Weltwirtschaft in den 2020er Jahren

von Jürgen Leibiger

Angenommen, es käme weder zu gravierenden politischen Veränderungen in den wichtigsten Ländern noch zu schweren ökonomischen, militärischen oder natürlichen Erschütterungen: Wie würde sich die Weltwirtschaft in den 2020er Jahren entwickeln? Viele einflussreiche Organisationen stellen solche Berechnungen an, wohl wissend, wie unsicher sie sind. Die Ergebnisse des Handelns großer Menschengruppen und Institutionen mit widersprüchlichen Interessen und in komplexen Kräftekonstellationen sind schwer vorhersagbar. Aber Handlungsentscheidungen und Empfehlungen beruhen auch auf Status-Quo-Prognosen, also auf der Abwägung dessen, was passiert, wenn nichts passiert.
Ziemlich sichere Vorhersagen betreffen die Zunahme der Weltbevölkerung. Sie wird von heute 7,7 auf etwa 8,5 Milliarden im Jahr 2030 wachsen. Die meisten Menschen werden weiterhin in Asien leben und der Prozess der Verstädterung wird anhalten. Am schnellsten wird Afrika wachsen, von 1,3 auf etwa 1,7 Milliarden Bewohner. Die afrikanische Bevölkerung wird sich extrem verjüngen, ohne dass ausreichend neue Beschäftigungsmöglichkeiten entstehen und das Bruttoinlandsprodukt (BIP) pro Kopf angemessen wachsen könnte. Afrika wird zum sozialen Pulverfass mit erheblicher Arbeitslosigkeit und Emigrationsbereitschaft vor allem der Jugendlichen, was entsprechende Auswirkungen auch auf Europa mit seiner zurückgehenden Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter haben wird.
Der Schwerpunkt der globalen BIP-Produktion bewegt sich weiterhin von den alten Zentren Nordamerika und Europa in Richtung Asien. China wird noch deutlicher die Rangfolge der größten Volkswirtschaften anführen. Mit einem im Vergleich zu heute auf 64 Billionen US-Dollar verdoppelten bis verdreifachten Bruttoinlandsprodukt wird es die USA mit dann 31 Billionen Dollar in Kaufkraftparitäten – so die vielzitierte Prognose der Londoner Standard Chartered auf der Basis von Daten des IWF – weit abgehängt haben. Noch liegen Chinas Produktivität und Pro-Kopf-BIP erst bei einem Drittel des USA-Niveaus. Aber bei einer doppelt so hohen Investitionsquote und einer erfolgreichen Strategie „Made in China 2025“ wird die Volksrepublik aufholen und erreicht 2030 etwa 50 Prozent des Pro-Kopf-BIP der USA; 2049 hätte es den Unterschied wettgemacht. Es ist das erklärte Ziel der Chinesen, im hundertsten Jahr der Gründung der Volksrepublik zu den führenden Technologienationen zu gehören.
Neben China rücken auch wegen ihres Bevölkerungswachstums weitere Länder in der Top-Ten-Liste nach vorn. Dazu gehören Indien (Platz 2), Indonesien (4), die Türkei (5), Brasilien (6) und Ägypten (7). Russland wird auf Platz 8 abgestiegen sein, Japan auf Platz 9, Deutschland auf Rang 10. Die Gruppe der G7-Staaten wird nicht mehr dominieren, was erhebliche Auswirkungen auf die globalen Handels- und Kapitalströme hat. Die Rolle des US-Dollars als führende Handels-, Anlage- und Reservewährung beginnt sich abzuschwächen. Auch wenn die USA wohl weiter über die stärkste militärische Interventionsmacht verfügen werden, erodiert ihre imperiale Stellung. Der Übergang von einer unipolaren zu einer multipolaren Welt verstärkt sich. In Bezug auf China und „den Westen“ wird heute oft konstatiert, es handele sich dabei um eine „Systemauseinandersetzung“. Clemens Fuest vom Münchner ifo-Wirtschaftsforschungsinstitut meint dazu: „Letztlich geht es um die Frage, ob der chinesische Staatskapitalismus mehr wirtschaftlichen Wohlstand produzieren kann als die westlichen Marktwirtschaften. Das wird letztlich auch die militärischen Kräfteverhältnisse bestimmen. […] Ob ein Wirtschaftssystem mit politischer Investitionslenkung, in dem Staatsunternehmen sozial- und regionalpolitische Aufgaben übernehmen, erfolgreicher sein kann als der in Europa vorherrschende Ansatz einer stärkeren Trennung zwischen Wirtschaft und Staat, weiß heute niemand.“ Schon bemerkenswert, wie die neuen Realitäten alte Selbstgewissheiten schwinden lassen! Dass die Härte der Auseinandersetzungen in Handel, Finanzen, Innovation, in Politik und Militärstrategie abnehmen werden, ist unter diesen Umständen nicht zu erwarten.
Selbst wenn es – was wenig wahrscheinlich ist – demnächst gelänge, das Ruder in der Klima-, Umwelt- und Ressourcenpolitik radikal herumzureißen, sind für das nächste Jahrzehnt trotz einzelner Fortschritte keine durchschlagenden Effekte zu erwarten. Dieser Dampfer reagiert nur sehr träge auf Ruderbewegungen. Das Risiko und die humanitären und monetären Kosten von klimatisch bedingten Extremsituationen wie Dürren oder Überschwemmungen und Hunger und von wachsender Knappheit beim Wasser und anderen strategischen Ressourcen werden also weiter zunehmen. Die in verschiedenster Form und auf unterschiedlichsten Feldern ausgetragenen Kämpfe um Ressourcen verschärfen sich.
Der emigrierte bolivianische Präsident Evo Morales zum Beispiel glaubt, der Anlass für seinen Sturz sei die Kontrolle der Lithium-Lagerstätten seines Landes gewesen. Die Bundeswehr spricht in ihrem „Future Report“ bezüglich der Ressourcensicherheit von einem erhöhten „Bedarf von Stabilisierungs- und Sicherungseinsätzen“.
Obwohl der Reichtum und die Pro-Kopf-Einkommen im Durchschnitt wachsen werden, lässt die Entwicklung der sozialen Ungleichheit keine rosige Zukunft erwarten. Die Ungleichheit bei Einkommen, Vermögen und Teilhabe ist im vergangenen Jahrzehnt weltweit gestiegen, auf einigen Gebieten bestenfalls konstant geblieben. Der Mechanismus der Kapitalakkumulation und der Vererbung von Vermögen führt ohne politische Eingriffe zu keiner Trendänderung. Schwächeres Wirtschaftswachstum, gedämpfte Investitionsdynamik und die in Finanzmärkte geleitete Sparschwemme hemmen trotz oder vielleicht sogar wegen der „digitalen Revolution“ einen stärkeren Abbau der globalen Arbeitslosigkeit und damit auch der weltweiten Armut; in Regionen mit hohem Bevölkerungswachstum wird sie sogar zunehmen. Die Wirkungen einer neuen, höchst wahrscheinlichen globalen Wirtschaftskrise sind dabei noch nicht einmal berücksichtigt. Sie würde, selbst wenn sie nicht die manchmal prognostizierten apokalyptischen Dimensionen hätte, die ungünstigen Trends und sozialen Spannungen verstärken.
Abgesehen von wenigen Punkten scheinen die Prognosen für die 2020er Jahre insgesamt kaum Anlass für Optimismus zu geben. Auch die UNO konstatiert, die für 2030 anvisierten Sustainable Development Goals seien nicht mehr zu erreichen. Aber vergessen wir nicht: Prognostiziert wird, was wahrscheinlich passiert, wenn nichts passiert. Die jüngste Vergangenheit zeigt auch, dass mit der Zuspitzung von Widersprüchen und in Krisen jähe politische Wendungen nicht ausgeschlossen sind und es ist auch nicht völlig gleichgültig, welche Regierung das Steuerruder führt. Die gewachsenen sozialen und politischen Spannungen gehen zwar einerseits mit einem nichts Gutes verheißenden Rechtsruck einher, aber andererseits ist in verschiedenen Ländern jüngst eine hohe, teilweise sogar militante Mobilisierungsbereitschaft gegen soziale und politische Regression und für eine andere Umweltpolitik zu beobachten. Wie schnelllebig die Zeiten sein können verdeutlicht ein Blick zurück. Vor ziemlich genau 80 Jahren, 1939, veröffentlichte Bertolt Brecht in der Weltbühne – der Vorgängerin dieses Blättchens – ein Gedicht mit folgendem Anfang: „Wirklich, ich lebe in finsteren Zeiten! / Das arglose Wort ist töricht. Eine glatte Stirn / Deutet auf Unempfindlichkeit hin. Der Lachende / Hat die furchtbare Nachricht / Nur noch nicht empfangen.“ Nur zehn Jahre später, größtenteils fürchterliche Jahre, begann der Aufbruch in eine neue Weltepoche.