22. Jahrgang | Nummer 25 | 9. Dezember 2019

Der Kapitalismus als Blasen-Ökonomie und das Minsky-Moment

von Jürgen Leibiger

„Eine Company, die höchst vorteilhafte Unternehmungen ausführt, aber niemand weiß, welche das sind.“ Würden Sie in ein solches Luftschloss investieren und Anleihepapiere dieser Gesellschaft kaufen? Nein? Auf dem Höhepunkt der englischen South-Sea-Spekulation von 1720 wurde von einer company tatsächlich mit diesem Spruch geworben; 2000 Pfund akquirierte sie, damals eine beachtliche Summe. Jede und jeder kaufte Papiere, die Rendite versprachen. Manchem war völlig klar, dass hier Luftblasen – bubbles – verkauft wurden, aber was macht das schon, wenn man sich clever genug dünkt, die Papiere im richtigen Moment mit Gewinn verkaufen zu können, weil man andere für weniger clever hält.
Geschäftstüchtige Druckereibesitzer zogen aus der Spekulationssucht auf eine besonders subtile Weise Gewinn. Sie verkauften Bubble Cards genannte Spielkarten mit Bildchen, auf denen man sich über die Spekulanten lustig machte. Aber wer rechtzeitig genug verkaufte, hatte natürlich aus anderem Grunde gut lachen; seine Spekulation ging auf. Nur wer zu spät kam hatte das Nachsehen. Die königliche Regierung wollte das Fieber und den Handel mit „imaginären Reichtümern“, so die Begründung, eindämmen und erließ ein Gesetz, das es nur noch amtlich zugelassenen Firmen (heute würde von zertifizierten Firmen gesprochen) erlaubte, Anleihen zu verkaufen. Die Folge war ein Run auf die Papiere dieser Gesellschaften, deren Kurse nun erst recht in die Höhe schossen, wobei viele Käufe mittels Kredit finanziert wurden.
Steigende Kreditmarktzinsen und Wertpapierpreise bremsen ab einem bestimmten Punkt die Renditeerwartungen. Wenn an diesem Punkt ein negatives Gerücht aufkommt oder durch irgendetwas oder irgendwen Zweifel an einem weiteren Steigen auftauchen, und die Erfahrung lehrt, dass es keinen ewigen Anstieg geben kann, verkaufen die ersten Anleger und der Preis beginnt zu fallen. Ein solcher Kipppunkt wird nach dem amerikanischen Wirtschaftswissenschaftler Hyman Minsky (1919–1996), der das Phänomen erforschte und modellierte, als Minsky-Moment bezeichnet.
Vielleicht löste damals sogar König Georg I., der deutsche Herzog von Braunschweig, den Fahrstuhl nach unten aus, weil bekannt wurde, dass er seine Anleihen zu verkaufen begann. Nun will jeder zu einem möglichst noch hohen Preis, also bevor dieser noch weiter fällt, verkaufen. Das führt zu einer Verkaufspanik, so dass der Preis nicht allmählich sinkt, sondern geradezu abstürzt: Die Blase platzt. Das Gesetz vom Juni 1720 ging deshalb als Bubble Act in die Finanzgeschichte ein. Obwohl der Sachverhalt der Blasenbildung älter als dieses Ereignis ist, war nun das Wort gefunden, dass die Sache auf den Punkt brachte: Bubble, Luftblase. Sogar in die zeitgenössische Literatur fand der Begriff Eingang. Jonathan Swift (1667–1745), nicht nur ein begnadeter Schriftsteller, sondern auch Ökonom, schrieb 1721 ein satirisches Gedicht „The South Sea Project“, manchmal auch als „The Bubble“ veröffentlicht, das frei übersetzt so endet: „Die Nation wird viel zu spät erkennen/ nachdem sie alle ihre Kosten und den Ärger berechnet hat/ dass die Versprechen der Direktoren nichts als Luft waren/ und die Südsee, bestenfalls, eine gewaltige Blase.“
Die Fachleute und Analysten beobachten heute mit Sorge, dass die Aktienkurse, die Boden- und Grundstückspreise und die Mieten in schwindelerregende Höhen gestiegen sind. Wann kommt das Minsky-Moment, wann platzt die Blase? Der deutsche Aktienindex DAX ist seit der Wirtschaftskrise 2007–2009 auf das 2,3-fache gestiegen. Die tatsächliche Gewinnentwicklung der in diesem Index gelisteten Firmen hat zwar lange Zeit mitgehalten, ist aber zuletzt massiv eingebrochen. Das Kurs-Gewinn-Verhältnis steigt, es zeigt an, dass der wachsende Wertpapierreichtum imaginäre Züge trägt.
Das nach wie vor hohe Kursniveau kann seine Ursache also keineswegs in der Entwicklung der realisierten Gewinne haben. Tatsächlich gilt hier was schon 1720 galt: Entscheidend sind die spekulativen Momente, die Erwartungen bezüglich der Kurse. Sie sind nicht nur von den Gewinnerwartungen der Unternehmen abhängig, sondern auch von den alternativen Anlagemöglichkeiten und den Kurserwartungen des Publikums selbst. Die Gewinnerwartungen sind nicht rosig, aber noch hoffen alle Aktienkäufer, dass sie so wie König Georg im Sommer 1720 die gekauften Papiere rechtzeitig, vor dem Minsky-Moment oder aber viel später, wenn der Absturz überwunden ist, gewinnbringend verkaufen können.
Um diese Erwartungen und damit die Kurse ihrer Aktien hoch zu halten, kaufen viele Konzerne ihre Anteilsscheine zurück. Teilweise hoffen sie auch, mit den kurstreibenden Aktivitäten feindliche Übernahmen zu erschweren, obwohl finanzkräftige Firmenjäger vielleicht gerade dadurch angelockt werden. Diese Rückkäufe, die sich zurzeit auf einem Rekordniveau befinden, können mit billigem Geld zu günstigen Zinsen finanziert werden. Die Liquidität ist vor allem aufgrund der Sparschwemme bei niedrigen Investitionen ziemlich hoch; auch die Geldpolitik der Europäischen Zentralbank hat daran einen gewissen Anteil. Die scheinbar nicht enden wollende Kursrallye wird zweifellos auch von den Verlautbarungen der Bundesregierung beeinflusst, eine Krise sei unwahrscheinlich. Bei niedrigen Zinsen sind Aktienkäufe außerdem allemal rentabler als andere verzinsliche Anlagen.
Genau wie im alten England wird hier mit heißer Luft spekuliert, mit verbrieften und handelbaren Erwartungen. Diese Wertpapiere werden in der politischen Ökonomie deshalb auch als „fiktives Kapital“ bezeichnet; 1720 nannte man sie „imaginären Reichtum“. Zu Blasen kommt es aber nicht nur im Bereich der Finanzen. Ein Element der Blasenbildung ist die Gewinnerwartung im realen Bereich. Sie beruht darauf, dass die Investition in ein bestimmtes Projekt einen Profit abzuwerfen verspricht. Auch hier handelt es sich um eine auf die Zukunft gerichtete Erwartung, „zu investieren ist in einer kapitalistischen Wirtschaft eine spekulative Tätigkeit, die nur am Rande mit Produktivität zu tun hat“, bemerkt Minsky. Die Investition im Realbereich der Wirtschaft erfolgt auf privater Grundlage ohne absolut sichere Kenntnis über künftige Realisierungsbedingungen und insbesondere über das Verhalten potentieller Kunden und Konkurrenten. Überakkumulation und Überproduktion sind unter diesen Bedingungen unvermeidlich, weil solange investiert wird, bis der Markt durch Umsatzstagnation und Preisverfall signalisiert, dass die profitversprechende Obergrenze der Investitionen und des akkumulierten Kapitals überschritten ist. Auftragseingänge, Kapazitätsauslastung und Investitionen, dann Beschäftigung und Löhne sinken; es kommt zu einer Rezession oder Krise
Es gibt eine ganze Reihe von Frühindikatoren, die ein Überhitzen der Konjunktur, also eine Überproduktion oder Blase im Realbereich anzeigen. Aber alle Investoren wollen ihre Gewinnmöglichkeiten maximieren und sie handeln durchaus rational, wenn sie diese restlos und so lange wie möglich ausreizen. Deshalb entsteht eine Konjunkturkrise, die nichts anderes ist als das Platzen einer Blase im Realbereich, letztlich doch unerwartet.
Man sollte es nicht glauben: Obwohl die Erfahrungen seit 1720 gewachsen sind, obwohl es ausgefeilte Finanzinstrumente, komplexe mathematische Vorhersagemodelle und Versicherungen sowie eine strengere Aufsicht gibt, und obwohl die Regierungen und Zentralbanken über eine erhebliche finanzielle „Feuerkraft“ und großen Einfluss verfügen, kommt es auch heute noch zur Bildung und zum Platzen ökonomischer Blasen. Noch einmal Hyman Minsky: „Alle Kapitalismen sind instabil, aber manche sind instabiler.“