Bevor ein größeres Werk fertig wird, werden Ideenskizzen angefertigt, Quellen ausfindig gemacht, Literaturrecherchen angestellt, Entwürfe formuliert und manchmal sogar Bücher geschrieben und veröffentlicht. Mit einem solchen Buch haben wir es bei der vorliegenden Publikation des Philosophen und Ökonomen Birger P. Priddat offenbar zu tun. Worum geht es darin? Der Autor spürt der Frage nach, was aus der europäischen Hoffnung der Verwandlung von „Arbeit“ in „höhere Tätigkeit“ wird, wenn demnächst im Zuge der digitalen Revolution der Fall eintritt, dass der Gesellschaft die Arbeit ausgeht, weil diese von Maschinen und Automaten übernommen wird. Tritt die Menschheit dann in eine postkapitalistische Mußegesellschaft ein, in ein Zeitalter maximaler Bildung und höchster Kreativität, oder versinkt sie in Faulheit, Amüsement und Apathie? Die Antwort auf diese Frage ist alles andere als trivial. Auch fehlen Erfahrungen und Vorbilder. Und Wunschvorstellungen sind selten zielführend. Folgerichtig formuliert der Autor nicht sofort eine Antwort, sondern diskutiert zunächst historische Lösungsansätze.
Dies beginnt mit Martin Luthers Hochwertung der Arbeit als Tätigkeit, welche die Menschen aus der Unselbständigkeit und Abhängigkeit der Armut herausholt (Arbeit I). Gemäß protestantischer Ethik ist jede Arbeit gottgewollt und daher anerkennenswert, gleich welchen Standes und welchen Berufes. Dies fand unter anderem seinen Niederschlag in der Arbeitswerttheorie der Politischen Ökonomie. Die damit verbundene Ethik und Ökonomie kommen heute aber an ihr Ende, auch wenn das Projekt „noch in Arbeit“ ist, wie Priddat schreibt.
Die erste Antwort (Muße I) darauf geht auf Friedrich Schiller zurück, genauer auf dessen ästhetische Vorstellung von der Bedeutung des Spiels für das vollständige Menschsein. Aber diese Antwort befriedigt nicht, da das Konzept des ästhetischen Spiels nur der „verwandelte Fortbestand der Muße“ feudaler Gesellschaften in einer Zeit ist, „der die Muße aus moralischen Gründen suspekt geworden ist“. Auch scheint der hierin zum Ausdruck kommende hohe Stellenwert der Kunst nicht mehr zeitgemäß zu sein. Die Konsequenz ist, dass das „große Schiller’sche Programm der ästhetischen Erziehung“ heutzutage „in Konsum-Welten“ endigt.
Der zweite Ansatz (Arbeit II) bezieht sich auf Karl Marx und dessen Vorstellungen über die Zukunft der Arbeit nach dem Ende des Kapitalismus. Marx prophezeit in den „Grundrissen“ eine Zunahme der freien Zeit, „die sowohl Mußezeit als Zeit für höhre Tätigkeit“ ist. Priddat interpretiert diese Aussage zunächst etwas eigenwillig, indem er die Muße „als höhere Tätigkeit“ ausgibt, aber so steht es bei Marx nicht. Auch die höhere Tätigkeit ist für Marx Arbeit, aber keine Lohnarbeit, sondern freie, schöpferische Tätigkeit. Befreiung von der Arbeit heißt bei ihm, dass die Arbeiter freie Zeit bekommen, um sich „Produktionen höherer Art“ zu widmen, nicht aber um zu faulenzen. Es ist dies ein deutlich anderes Gesellschaftskonzept als das, welches Paul Lafargue in seinem satirischen Pamphlet „Das Recht auf Faulheit“ unterbreitet hat.
Bei Schiller wie bei Marx ist die Erwartung enthalten, dass die Mußezeit immer auch eine Zeit der Bildung sei, der höheren Bildung, wofür bisher Zeit und Voraussetzungen fehlten. Dies aber, so Priddat, wird im Diskurs um ein bedingungsloses Grundeinkommen (BGE) komplett ausgeblendet, was Hannah Arendts Befürchtung, das Fehlen von Arbeit könne zu einer Degeneration der Gesellschaft führen, einige Plausibilität verleiht.
Hieran an schließt sich ein zweiter Muße-Entwurf (Muße II), der sich auf John Maynard Keynes bezieht. Im Unterschied zu den vorstehenden Kapiteln ist dieser Teil vollständig ausgearbeitet und daher hervorragend rezipierbar. Die Hauptaussagen beziehen sich auf Keynes‘ Überlegungen für die Zeit nach dem Kapitalismus, adressiert an seine Enkel. Keynes vermutet, dass das „ökonomische Problem“ dann gelöst sei und plädiert für eine stationäre Wirtschaft, die allen Menschen einen moderaten Wohlstand verschafft. Bis dahin allerdings sollte die Entwicklung mit Volldampf vorangetrieben werden. Also Wirtschaftswachstum um jeden Preis. Das Ziel sei ein auf privatem Eigentum und persönlichen Freiheitsrechten basierender „Kommunismus“ – eine in jeder Hinsicht utopische Vorstellung. Das Ideal von Keynes orientiert sich an vergangenen Zeiten und Vorbildern. Heute, fast einhundert Jahre später, ist zu erkennen, dass es sich bei seiner Idee nicht weniger als bei Schillers Projekt um eine zeitgebundene Vision handelt, die sich inzwischen als illusionär und überholt erweist.
Im letzten Kapitel des Buches werden die zuvor entwickelten Ansätze noch einmal rekapituliert und mit dem Konzept eines BGE konfrontiert. Das Ergebnis ist ernüchternd. Einerseits muss eingestanden werden, dass von den hohen Zivilisationsidealen, die sich in den postkapitalistischen Phantasien von Marx und Keynes finden, nur wenig Realistisches übrig bleibt. Priddat vermerkt kritisch, dass die „Zeitökonomie der Muße“, die bei den großen Vordenkern einen so hohen Stellenwert eingenommen hat, sich heute, in den aktuellen „Kreativitätskarrieren“, nur noch „als ‚Auszeit‘ spiegelt, als Schlaf- und Sportoptimierung“. Die Grundeinkommensdebatte zielt auf gänzlich andere Beschäftigungen: „Man ist so frei, arbeitslos, tätigkeitslos und ungebildet zu bleiben.“ Insofern erweist sich das BGE als kaum geeignet, die hohen Ideale der bürgerlich geprägten Vorstellungen von „Muße“ und einer „Welt ohne Arbeit“ zu realisieren. Ganz abgesehen von den ungeklärten Finanzierungsfragen, die ein solches Konzept nach wie vor bereithält. Aber, wenn die Hochwertung der Arbeit verloren geht und das Zivilisationsideal einer durch Bildung qualifizierten Muße ebenfalls nicht mehr greift, was bleibt dann noch, wenn der Gesellschaft tatsächlich die Arbeit ausgeht oder zumindest spürbar weniger wird als bisher?
Um die Beantwortung dieser Frage geht es in der künftigen Diskussion. Es ist das Verdienst des Autors, diese Frage aufgeworfen und ihre Beantwortung theoretisch vorbereitet und vordiskutiert zu haben.
Birger P. Priddat: Arbeit und Muße. Über die europäische Hoffnung der Verwandlung von Arbeit in höhere Tätigkeit, Marburg 2019, Metropolis-Verlag, 165 Seiten, 19,80 Euro.
Schlagwörter: Arbeit, bedingungsloses Grundeinkommen, Birger P. Priddat, Muße, Ulrich Busch