22. Jahrgang | Nummer 24 | 25. November 2019

Querbeet

von Reinhard Wengierek

Meine Fundstücke im Kunstgestrüpp: Diesmal tobende Verrückte nebst einem goldenen Ganzkörperkondom…

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Was für ein pointiert freches Sprechstück, was für ein artistisches Spiel- und prunkvolles Schauwerk an der Berliner Schaubühne, dieses frivol-luftige Raus-aus-und-rein-in-die-Seitengassen-Stück „Amphitryon“ von Molière, pfiffig ins Deutsche gereimt von Arthur Luther.
Da treibt Gottvater Jupiter (Axel Wandtke) bösen Schabernack mit zwei glücklichen Menschen, indem er sie jeweils mit Doppelgängern konfrontiert und mit den auflodernden Zweifeln an ihrer Identität an den Rand des Unglücks treibt, bevor er gnädig alles aufklärt. Ende gut alles gut! Dass er unerkannt als Double des siegreich thebanischen Feldherrn Amphitryon (Florian Anderer) dessen Gattin Alkmene (Annika Meier) schwängerte, wird ohne Mucks hingenommen. Die keimende Frucht ist schließlich Herakles …
„Amphitryon“ von Jean-Baptiste Poquelin alias Molière ist Herbert Fritschs vierte Inszenierung an der Schaubühne, bevor er sie demnächst verlässt. Und sie feiert noch einmal furios die Fritsch’sche Spielwut; entfesselt einen dahin wuselnden Scherz mit bisschen tieferer Bedeutung und allerhand höherem Blödsinn nebst hysterischem Unsinn sowie allgemeiner Verwirrung und Verunsicherung. Alles zusammen mag man als Gleichnis nehmen für gegenwärtige Gesellschaftszustände (oder war das seit jeher schon so?).
Die heimliche Sensation dieses lustvollen Abends, die sich selbstverständlich in keinem Moment als solche spreizt, ist jedoch der Berlin-Einstand des Wiener Burgtheater-Stars Joachim Meyerhoff als Sosias. Trotzdem gilt auch diesmal wie eigentlich immer an diesem herrlichen Theater: Das Ensemble ist der Star! Und gibt uns ein Fest.
Deshalb an dieser Stelle die noch nicht gefeierten Sterne am Komödianten-Himmel: Carol Schuler als Sosias’ Frau Cleanthis, Bastian Reiber als Merkur und Doppel (oder Schatten) von Sosias Meyerhoff und Werner Eng als das Wirrwarr kommentierende, kess kostümierte Nachtgestalt. Überhaupt diese des Sonnenkönigs Mode karikierende sexy Kostümpracht von Victoria Behr! Dazu im Kontrast schlicht-schwarz das Musikanten-Duo, das am Klavier (Ingo Günther) sowie am Percussions-Apparat tobt (Taiko Saito).
Auch ist wohltuend just in unseren grau lastenden Zeiten, dass die in fein lichte Fritsch’sche Farbenfreude und champagnerschäumenden Esprit getauchte Inszenierung nicht mit eingestreuten Heiner-Müller-Zitaten oder aufgepfropften Theorien über Identitätsprobleme zeigefingerhaft beschwert wird. Eine Farce, was sonst. Eine rockend-barockisierende, keck die Antike grüßende Preziose. Ein dreistes Lüftchen! – Wie schön, dass derart entspannt Französisches einmal wieder gewagt wird in angestrengt grüblerisch Allemagne.

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„Wir waren 17, steckten zu fünft im Auto, rauchten und hörten Musik“, erinnert sich René Pollesch, nun auch schon Ende fünfzig, ans romantische Teenager-Kuscheln im kollektiv verrauchten Kleinwagen-Zuhause, aus dem die geile Popmusik dröhnte gegen die öde blöde alte Welt da draußen.
Jetzt jedoch, viele Jahre später und älter, da geht längst nichts mehr gemeinsam und zusammen geballt. Jetzt gibt es kein Zuhause mehr. Einsamkeit und Weltverlorenheit quälen, und der grandiose Schauspieler Fabian Hinrichs, sexy verpackt im goldenen Ganzkörperkondom, stellt im Berliner Friedrichstadt-Palast die wunde Seele mal lauthals wütend mal melancholisch verweht zur Show-Schau.
Glitzer, Glamour und Show waren sympathischerweise schon immer eins mit Polleschs plakativ-boulevardesker Postdramatik, die er dann auch gleich selbst inszeniert. Es sind jäh in die dünne Luft des sozialpolitisch Theoretischen schießende, dann wieder gleichermaßen ins Dicke des Menschlich-Banalen stürzende Diskurs-Stücke, die alsbald Kult-Status erlangten. Freilich, zunächst galt das eher für Eingeweihte, als es anfing vor etwa zwei Jahrzehnten im Berliner Volkbühnen-Prater mit irrwitzig rasenden intellektuell-plebejischen, philosophisch angehauchten Wohnküchendiskussionen über Glanz und Elend kapitalistischer Ich-Verwertung und damit einhergehender Ich-Entfremdung; Polleschs Grundthema, das er seither geradezu manisch (oder auch inflationär) vervielfältigt auf sämtlichen deutschsprachigen Renommierbühnen – aber immer mit Starbesetzungen.
Und jetzt also sein ganz und gar gigantischer, aber konzeptionell passender Coup im Riesenpalast an der Friedrichstraße auf der Welt größten, für sensationelle High-Tech-Show-Spektakel eingerichteten Bühne mit Hinrichs, einer Koryphäe der Branche. Motto: „Glauben an die Möglichkeit der völligen Erneuerung der Welt“.
Typisch fürs Pollesch-Casting ist: Es besteht immer aus Koryphäen, die ihrem Meister offensichtlich geschlossen zu Füßen liegen (wie macht er das bloß?) – und ohne die der Pollesch-Ruhm kaum zu erspielen gewesen wäre.
Also hier ohne diesen hochartistischen Hinrichs, diesen durch die Welteinsamkeits-Riesenbühne textenden und tänzelnden Goldsplitter, wäre Polleschs Schlagzeilen-Lamento über schmerzliche Isolation, über Konsumbesessenheit, Kapitalismushörigkeit oder schwindende Standards gesellschaftlicher Teilhabe, über Egomanie, Globalisierungswahnsinn und ins metaphysische gesteigerte Obdachlosigkeit ziemlich langweilig. Denn: Nix Neues kommt bei rum.
Höchstens der Satz: „Ich habe zumindest abgespeichert, dass das mal funktioniert hat, die Nähe, dass es gelingt, dass man einmal nicht einsam ist.“ Ist freilich nicht viel, um an die Möglichkeit völliger Welterneuerung zu glauben. Doch das war ja ohnehin bloß der Ironie eines total Vereinzelten geschuldet, eines gefühlt Überflüssigen im gefühlt schlimmen irdischen Jammertal.
Rundheraus gesagt: Es sind weniger die monologischen Text-Kaskaden, die dem eifernd räsonierenden 80-Minuten-Abend die Wow-Effekte setzen, sondern vielmehr die spektakuläre Monumentaltechnik der Bühne (Laser, Licht, Megasound) sowie die grandiose Palast-Ballett-Truppe, die das Pollesch-Depressive entweder suggestiv verstärkt oder augenzwinkernd konterkariert. Und die einfach alles kann zwischen Klassik und Revuetanz. Mal grell und krachend, mal zart und leise assistiert sie dem Rede-Tsunami eines Daseinsüberdrüssigen. Darunter ein tiefsinniges Bonmot: „Tiefe ist, wenn man sich öfters sieht.“ Was natürlich als flachsinnige Wunschfantasie gemeint war. Oder?
Kleiner Scherz zum erheiternden Rausschmiss: Die Fragen der Philosophen lauten, warum man sich nicht umbringe. Und warum einer die Tür öffne, wenn jemand draußen klingele. – Der finale Kommentar: „Zuhause bedeutet für alle, dass es keins für sie gibt.“ Stimmt oder stimmt nicht. Ist aber auch nix Neues. Darauf ein paar Akkorde Pink Floyd. Tröstlich oder auch nicht.