22. Jahrgang | Nummer 23 | 11. November 2019

Querbeet

von Reinhard Wengierek

Meine Fundstücke im Kunstgestrüpp: Diesmal Themenverwaltung mit Lear, Puppenzirkus mit Baal …

***

Man sollte sich vorher kundig machen. Denn wichtig zu wissen wäre, dass der Regisseur Sebastian Hartmann seine oft hoch schäumende, oft aber auch hoch ins Kraut schießende Fantasie nicht etwa dazu nutzt, Stücke mit Handlung, mit konkreten Figuren und ihren Konflikten erregend ins Heute zu holen, also Drama zu machen. Vielmehr, so sagt er selbst, bewege er sich frei in Stoffen, betreibe Themenverwaltung – klingt erregend nach Buchhalter. „Unsere Konventionen, wie man sich Geschichten erzählt, haben uns dahin gebracht, wo wir im Moment stehen: am Rand der Klimakatastrophe, vor der Implosion von Wertesystemen, die in diesen Geschichten gleichzeitig tradiert worden sind.“ So steht es im Programmheft des Berliner Deutschen Theaters zu „Lear“ nach Shakespeare.
Nach landläufig altmodischer Sicht jagt Shakespeare einen maroden König durch alle nur denkbar irdischen Höhen und Tiefen, Natur- und Menschengewalten. Dabei wird uns ohne Verfallsdatum erzählt vom argen Weg der Erkenntnis, dass alles Streben auf Erden eitel ist, wir alle Narren sind, und der Mensch umherirrt als „ein armes, nacktes zweizinkiges Tier“, dem nichts bleibt als „befleckte Erde“ sowie „der Tod als einziger Trost“.
Grundsätzlich stimmt Hartmann dem Kollegen Shakespeare zu; aber nur grundsätzlich; ansonsten macht er seins. Die Lear-Story interessiert ihn nicht. Ihm geht es allein um Motive, Themen, Prinzipien, die im „Lear“-Stoff stecken und die er performativ-assoziativ heftig verquirlt: Etwa Generationenwechsel (Vätervernichtung), Klimakatastrophe (die befleckte Erde), Narretei (Demenz die Alten, Größenwahn die Jungen), Wertesystem-Auflösung, Weltuntergang.
Hartmann inszeniert nicht die spannende, ergreifende, entsetzliche Tragödie. Er pinselt vielmehr lang und breit Endzeitstimmung. Bleibt die Frage, ob es eine packende theatralische Alternative ist, den Autor so ziemlich zur Gänze beiseite zu lassen. Ob der Bruch mit der Tradition zugunsten eines effektheischend depressiven Quirlens im abstrakten Themen- und Prinzipienbrei, also postdramatischer Demonstrationsbetrieb, aufregender wirkt als das präzise Erzählen einer sensationellen, das Menschheitliche fassenden Untergangsgeschichte.
Für Hartmanns „Bewegung im Stoff“, für diese über zwei Stunden sich im Allgemeinen hinschleppende, obendrein schwer nachvollziehbare Themenverwaltung (kaputte Menschheit im Unterganstaumel et cetera) ist dem Regisseur – schade, schade – nichts Signifikantes eingefallen. Kein Abendfüller; da war er schon mal besser. – Und so turnen denn im Dauernebel und mit Scriptfetzen im Mundwinkel Learsche Familienmitglieder (die Herren gelegentlich nackig, die Damen elegant hochhackig) um zwei moderne Krankenbetten aus der Demenzklinik. Dort lagern im Nachthemd Lear und Gloster, die verdammten Shakespeare-Oldies. Und dämmern ihrem Ende entgegen.
Tja, irgendwie hat das schon mit dem Autor zu tun. Doch letztlich hat ja alles auf dieser Welt mit ihren armen Zweizinkern irgendwie mit Shakespeare zu tun. Hier jedoch wenig mit der fürs Theater lebenswichtigen Kommunikation zwischen Publikum und Bühne.
Wie aber geht das zusammen mit Hartmanns Credo, dem Programmheft entnommen: „Der Ort Theater ist zu wichtig geworden, um ihn der Unterhaltung zu überlassen“. Folglich wäre Kommunikation unwichtig, weil unterhaltsam …??
Immerhin, etwa nach einer Stunde öder Themenverwaltung, Liste „Lear“, gab’s einen unterhaltsam interaktiven Akt: Ein älterer Herr (Generation Lear?) ruft entnervt vom Rang: „Wo ist Shakespeare?“ Dann hallt kurz vorm Türenknall der Ruf: „Schlaft nicht ein!“ – Damit wäre die Lage gemäß Hartmann nach Shakespeare auf den Punkt gebracht: Generationenclinch und Traditionsbruch, dazu Aufregerei im Parkett als lebendiges Theater ganz anders.
Die Regie mag vorausschauend gespürt haben: Es reicht nicht mit dieser lauen Learerei um zwei Krankenbetten. Ein rasselnder Wecker, ein schrilles Wow muss her! Das liefert, sozusagen im Nachklapp, der Autor Wolfram Lotz mit seinem 99-Seiten-Monolog „Die Politiker“. Oder besser: Das liefert im elegant glitzernden Abendkleid die tolle Schauspielerin Cordelia Wege, Hartmanns Ehefrau, indem sie dieses wutbürgerschnaubende Wortungetüm in dreißig kochenden Minuten von der Rampe donnert. Die somit uraufgeführte Suada lästert ätzend über die chaotische Welt samt unserm irrwitzigen Drinsein und tödlichen Durchwursteln. „Die Politiker knacken Nüsse, klingt wie Schüsse.“ – Furiose Sprach- und Sprechkunst als Rausschmeißer vor giftig grellgelbem Sonnenrad als extra Hingucker auf ansonsten leerer Bühne. Zwingt zum Beifall. Deshalb am Schluss: Viel Applaus.

*

Weißer Schnaps sei sein Stab und sein Stecken. Und Liebe sei, wie wenn man eine Orange zerfleischt, dass der Saft in die Zähne schießt. So spricht Baal, das „schmutzige Tier, die Plage des Himmels“. Eine irdisch explodierende Verführung, die alles interessiert, was sie fressen kann – williges Menschenfutter gibt sich ihm hin zuhauf.
Bertolt Brecht (damals noch: Berthold) maß gerade zwanzig Lenze, als er – in triumphierender Pose des genialischen Bürgerschrecks – sein erstes abendfüllendes Stück schrieb, benannt nach dem syrischen Fruchtbarkeitsgott Baal. Eine reißerische Szenenfolge aus Sex und Mord, betörender Poesie und pathetischem Glücksverlangen um einen potenten Gierhals und rücksichtslosen Schnorrer.
„Baal“ zeichnet grell und düster, wüst und melancholisch das grotesk übersteigerte Selbst- und Wunschbild des allseitig erregten Bürgersohns aus der Augsburger Provinz: Ein Asozialer mit Kopf- und Herzrasen in einer für asozial gehaltenen Gesellschaft. Später, im Abstand der Jahre, wird der nunmehr gereifte Autor sagen, seinem Erstling fehle die Weisheit. Da war er als kühler Analytiker politischer Verhältnisse längst fertig mit lichterloh brennendem Expressionismus, mit dem baalschen Eskapismus, dem schillernd Geniekult betreibenden Gesellschaftsclown. Aber ein menschenverschlingender Lederjacken-Macho blieb B.B. dennoch Zeit seines Lebens – und ein zart besaiteter, großer Poet dazu.
Nun also, nach bereits knapp drei Jahren, schon wieder „Baal“ im Berliner Ensemble, diesmal nicht wie damals im Studio, sondern ganz groß opernhaft aufgezogen: Hauptbühne plus Vorbühne, aus dem lebensgroß ein neckisch Stofftier-Kuschel-Zebra lagert. Und mit rotem Samtvorhang. Hätte Brecht nun gar nicht gefallen. Anno 1954 erklärte er im sozialistischen DDR-Berlin: „Die Lebenskunst Baals teilt das Geschick aller anderen Künste im Kapitalismus: sie wird befehdet. Er ist asozial, aber in einer asozialen Gesellschaft.“
Doch böse Buben, genial radikale Kerle werden in unsern postmodern-liberal-kapitalistischen Zeiten längst nicht mehr befehdet, sondern als Popstars gefeiert. Immerhin könnte das der als Jung-Genie gehypte Regisseur Ersan Mondtag mal kritisch hinterfragen. Tut er aber nicht. Auch könnte er – streng dem Zeitgeist folgend – Baals aufgeblasene Machopose aufspießen oder einfach dessen kreativ und (selbst-)mörderisch drogengesteuerte Raserei als tragisch vorführen. – Doch nix davon.
Dafür jede Menge kunstgewerbliche Verfremdung: Die Drehbühne mit Kulissen in Mondtags expressionistischem Retro-Stil (Kneipe namens BAAR, Kleinstadtgasse, verschneite Dachkammer, kirchenschiffhohes Atelier mit Riesenbarby-Puppe und abnehmbarem Penis); alle Figuren bis auf Baal, Mama Baal und Freund Johannes gestopft in hautenge Trikots mit neonfarbigen Konturierungen, vor allem aber mit geschlechtsneutraler Kennzeichnung. Hätte Brecht eher nicht gefallen.
Gegen das total verpuppte Personal muss nun die arme, großartige Schauspielerin Stefanie Reinsperger im schwarzen Anzug realistisch anspielen, indem sie je nach Lage der Dinge lieblich zu zirpen, kraftmeierisch zu toben, verzweifelt zu heulen, sarkastisch zu wettern, traurig zu winseln oder zornig zu wimmern hat.
Judith Engel gänzlich verhuscht als Mutter und zugleich Busenfreund Johannes (bemerkenswert: alles modisch korrekt crossgender!) darf nur artig ihren Text hinhauchen. Alles knapp drei Stunden lang zum Einschlafen (mit elend lauen Anleihen bei Wilson, Schleef und natürlich Castorf). Gellten da nicht gelegentlich aufmunternde, von Eva Jantschitsch fein gecoverte Song-Nummern für die hilflose, dabei toll röhrende Reinsperger.
Von Anarcho also kaum eine Spur. Von einer Regiemeinung dazu gar keine. Viel schöner Text im kunstgewerblichen Pappkulissen-Puppenzirkus mit ein bisschen Moritaten-Stadel. Drin verbaalt sich alles so dahin. Eine aufwändig edel dekorierte Verbaalerei; womöglich cool gemeint, aber kalt lassend. Hat B.B. nicht verdient. Hätten die beiden so sympathischen Brecht-Erbinnen getrost verbieten können. Trauten sie sich aber nicht. Man wollte offen sein, nichts befehdend, allseits gutmeinend, liberal – was gelegentlich auch uncool sein kann.