22. Jahrgang | Nummer 23 | 11. November 2019

Nochmals zum Mauerfall. Eine Widerrede

von Michael Wolski

In der Ausgabe 22/2019 wurde eine Besprechung von Alfons Markuske zu „1989. Mauerfall Berlin. Zufall oder Planung“ von Michael Wolski publiziert. Dazu erreichten uns die nachfolgenden Einlassungen des Autors.

Die Redaktion

Der Rezensent schaut auf das Buch wie aus einem Flieger auf die Erde. Er hat es aus dieser Sicht erfasst und eine Stelle entdeckt, die ihm besonders in die Nase sticht („ohne erkennbare Not die Mär vom geplanten stalinschen Angriffskrieg gegen Deutschland wieder aufwärmt“).
Dieser Geruch stört ihn und er verortet ihn beim Autor. Aber nicht der Autor, sondern Semjonow hat dieses Thema ins Spiel gebracht (in seinem Buch „Von Stalin bis Gorbatschow“), zitiert in meinem Buch auf Seite 99 ff. Ich habe nur Fragen zu Semjonows Aussagen gestellt und mögliche Antworten gegeben.
Bei dieser Form eines Kommentars kann nur derjenige alles erfassen und bewerten, der die Bestandteile des Themas schon überwiegend kennt (früher aus den Westmedien, hier: nach dem Lesen des Buches).
Der Rezensent betrachtet nicht die angeführten dokumentierten Fakten und von mir hinterfragten Abläufe und Terminfestsetzungen aus der Nähe. Deshalb will ich hier einige nennen, um den Leser detaillierter zu informieren und seine Meinungsbildung anzuregen.
Markuske schreibt: „Allerdings besteht das Fundament, auf dem Wolski sein Konstrukt ausbreitet, lediglich aus einer einzigen Ex-post-Passage des sowjetischen Außenministers Eduard Schewardnadse […].“
Meine Antwort: Nein, ich habe dieses Zitat vorangestellt, um zu zeigen (wie auch mit anderen Zitaten), dass vieles geschrieben wurde, aber niemand bisher das Gesagte in den richtigen Kontext gestellt und hinterfragt hat.
Im Buch gehe ich in Auszügen schwerpunktmäßig auf die Jahre 1939 (sowjetisch-deutscher Grenz- und Freundschaftsvertrag), SBZ, 17. Juni 1953, Mauerbau 1961 ein und ich zeige die politischen und wirtschaftlichen Gründe für den Ideologiewechsel mit Gorbatschows Machtantritt 1985. Erstmals in der Literatur zum Jahr 1989 wird die Gleichzeitigkeit von Aktivitäten in Vorbereitung und Durchführung des Mauerfalls mit der parallel erfolgten Ungültigkeitserklärung der beiden deutsch-sowjetischen Verträge von 1939 aufgezeigt. Nach 49 Jahren der Leugnung der Existenz von Geheimprotokollen, darunter auch die „Beschreibung des Verlaufs der Staatsgrenze der UdSSR und der Staats- und Interessengrenze Deutschlands“, wurden diese Verträge nebst Geheimprotokollen von der sowjetischen Führung 1989 zur Diskussion freigegeben und sechs Wochen nach dem friedlichen Mauerfall am 24.12.1989 vom Volksdeputiertenkongress für „nichtig von Anfang an“ erklärt. Anderenfalls hätte Deutschland später einmal territoriale Ansprüche auf Königsberg/Kalingrad erheben können, denn die deutsch-sowjetische Staatsgrenze verlief zwischen der Litauischen Sowjetrepublik und dem Königsberger Gebiet. Damit stand der deutschen Einheit nichts mehr im Wege. (Zu Exposé, Inhaltsverzeichnis und Linkliste meines Buches hier klicken. Zur Übersicht der Gleichzeitigkeit der Aktivitäten von 1989/90 hier klicken.)
Ich habe nicht behauptet, dass ich einen Plan (Drehbuch) oder Beteiligte kenne. Ich gehe der Vermutung nach, dass anhand der dokumentierten Fakten und der Zeitgleichheit bestimmter Ereignisse es ein Drehbuch oder einen Plan gegeben haben muss und versuche die Konturen dieses Drehbuchs nachzuzeichnen.
Interessant ist, dass der Rezensent keine Bewertung zum Kapitel 1 im Teil 1 „Wie führte und kontrollierte die Sowjetunion hohe und höchste Funktionäre der DDR?“ gibt. Es ist ein desillusionierendes Thema – was aus unterschiedlichen Gründen von den Russen, den Beteiligten, der Ex-SED Parteiführung, den friedlichen Revolutionären und der Geschichtsschreibung (auch anderer westlicher Länder) seit 1989 nicht beackert wird. Amerikaner, Franzosen und Briten könnten zwar mit dem Finger auf die Russen zeigen, müssten dann aber bei sich dieses Thema ebenfalls diskutieren.
Konnte man in den Informationen der Stasi-Unterlagenbehörde detailliert zur Anzahl Führungsoffiziere, OibE und Informelle Mitarbeiter im Jahr 1989 nachlesen, so fehlen diese Informationen zu KGB und GRU in der DDR.
Das bedeutet aber nicht, dass es sie nicht gab.
Meines Wissens hat der letzte DDR-Innenminister Diestel dazu als erster Ex-Offizieller in seinem im September 2019 erschienen Buch „In der DDR war ich glücklich und trotzdem kämpfte ich für die Einheit“ auf Seite 211 das Problem der Unterwanderung höchster Positionen mit Agenten der Siegermacht beschrieben: „Zwei Generäle aus meiner unmittelbaren Umgebung offenbarten sich mir unter vier Augen. Ich bin der und der, habe das und das gemacht und bin auch Offizier der Sowjetarmee.“
Nach meinen Schätzungen (unter Zugrundelegung der Angaben der Stasi-Unterlagenbehörde) zum Verhältnis Führungsoffizier/IM dürften es 1989 etwas mehr als 2000 DDR-Bürger gewesen sein, die in hohen und höchsten Funktionen für die Freunde gearbeitet haben.
Diese Personen hatten sich verpflichtet, der Sowjetunion im Geheimen zu dienen, indem sie die Entscheidungsträger der DDR kontrollierten und im Moskauer Sinne beeinflussten!
Das erklärt aus meiner Sicht die personellen Voraussetzungen des KGB für einen geplanten, friedlichen Mauerfall.
Damit beantwortet sich auch diese Fragestellung des Rezensenten: „Und die Frage, was die Betreffenden veranlasst haben sollte, ihrer Verbundenheit mit der Sowjetunion bis zur Beteiligung an der Herbeiführung auch des eigenen staatlichen und sozialen Untergangs zu folgen, stellt Wolski (vorsichtshalber?) erst gar nicht.“
Stellt sich ein Soldat diese Frage, der bereit ist, sein Leben für sein Vaterland zu opfern?
Zur Person Semjonows. In meinem Buch heißt es auf Seite 96: „Wer aber sollte diese vertraulichen Gespräche beginnen und dann die Verhandlungen führen? Für diese Aufgabe gab es nur einen Kandidaten. Sein Name war untrennbar mit dem sowjetisch-deutschen Grenz- und Freundschaftsvertrag und der Sowjetisierung Litauens, Schlacht am Kursker Bogen, Potsdamer Konferenz, Sowjetischer Besatzungszone, Enteignung der Bauern in Ostdeutschland (Bodenreform), Gründung der DDR, Hochkommissar in Deutschland, Niederschlagung des Aufstandes vom 17. Juni 1953, Berlin-Memorandum Chruschtschows 1958 und Planung des Mauerbaus 1961 sowie Leitung der SALT-Verhandlungen verknüpft – es war Wladimir Semjonowitsch Semjonow.
Nach der Weisheit der Bibel (Hiob 1;21) „Der HERR hat’s gegeben, der HERR hat’s genommen“ konnte auch in dieser irdischen Angelegenheit nur die Herrin des Mauerbaus – die UdSSR – den Mauerfall herbeiführen.“
Deshalb wurde im Mai 1986 Wladimir Semjonow (von Ende 1978 bis Anfang 1986 Außerordentlicher und Bevollmächtigter sowjetischer Botschafter in Bonn) im Alter von 75 Jahren zum Berater Schewardnadses und Sonderbotschafter berufen – mit ständigem Wohnsitz in Köln, 40 Kilometer von Bonn entfernt, der damaligen Hauptstadt der Bundesrepublik Deutschland. Die deutsche Geschichtsschreibung (und damit Wikipedia) machen daraus: Er setzte sich in Köln als sowjetischer Pensionär zur Ruhe.
Abschließend noch ein Wort zu Markuskes Schlussfolgerung: „P.S.: In das KGB-Drehbuch soll Wolski zufolge nicht zuletzt Gorbatschow eingeweiht gewesen sein. Wenn man allerdings den Dokumentenband ‚Michail Gorbatschow und die deutsche Frage. Sowjetische Dokumente 1986–1991‘ zur Hand nimmt […], dann kommen einem nicht unerhebliche Zweifel auch daran.“
Nun ja, ein Hof-Presseamt schreibt Geschichten, aber nicht Geschichte.
Ich möchte mit einem Zitat aus Egon Krenz Buch „Wir und die Russen – Die Beziehungen zwischen Berlin und Moskau im Herbst ’89“ schließen. Egon Krenz veröffentlichte erstmals einen Hinweis des UdSSR-Botschafters Kotschemassow an ihn am Tag nach dem Mauerfall, auf die beiden sowjetischen Geheimdienste KGB und GRU anspielend: „Bedenken Sie aber bitte auch, dass ich zwar der sowjetische Botschafter bin, es gibt aber noch andere sowjetische Institutionen in der DDR, über die ich nicht Bescheid weiß.“
Man könnte es auch so formulieren: Es gab durch Gorbatschow und den KGB einen verdeckten Staatsstreich mit dem Ziel der Aufgabe der DDR, des Ostblocks und des Sozialismus als Regierungsform.
Dreh- und Angelpunkt der ganzen Aktion war der Mauerfall, der so ausgeführt wurde, dass in der Öffentlichkeit nicht die UdSSR damit in Verbindung gebracht wurde. Erst der Mauerfall ermöglichte den nachfolgenden Paradigmenwechsel, beginnend zehn Monate später mit der Unterzeichnung des 2+4 -Vertrages, danach der Vereinbarungen zum Abzug der Sowjetarmee aus der DDR und Osteuropa und am 6.11.1991 mit dem Verbot der KPdSU in der Russischen Föderativen Sowjetrepublik. Lenins Werk, die Gründung der UdSSR am 30.12.1922, zerfiel dann am 26.12.1991, zwei Jahre nachdem der Volksdeputiertenkongress die Verträge mit Hitler-Deutschland von 1939 für ungültig erklärt hatte und danach das Baltikum den Zerfall auslöste.
Offiziell hätte man das alles nicht umsetzen können, das hätte eine Revolte gegeben, sowohl in der Sowjetunion als auch im Ostblock. Schwerdnadse schrieb 1991 in seinem Buch „Die Zukunft gehört der Freiheit“, „dass im Bewusstsein des sowjetischen Volkes die Existenz zweier deutscher Staaten als Garant für den Frieden in Europa angesehen wurde“. Er betonte, dass es 1986 in der Sowjetunion unmöglich war, dieses Problem und dessen Lösung öffentlich anzusprechen. Die Politik durfte diese Sicht der sowjetischen Menschen nicht ignorieren.