von Stephan Wohanka
Die Welt, so Walter Benjamin, sei von sich aus – er schrieb das vor bald einem Jahrhundert – strukturell unerzählbar geworden. Schon damals.
Der Tag war lauer als die vorherigen und machte Lust auf einen Spaziergang. Als ich mich, von den Linden kommend, dem Pariser Platz näherte, schallte mir schon von Weitem entgegen „el pueblo unido, jamás será vencido“ – muss man das übersetzen? Aha, es geht um Chile, dachte ich; die dortige Volkserhebung – das ist die einzig angemessene Vokabel dafür, was sich nicht nur in Santiago abspielt – führt auch hier lebende Chilenen auf die Straße. An Ort und Stelle gelangt, sah ich – es ging um Venezuela. Jedenfalls legte dies das ausliegende Propagandamaterial nahe. Namentlich Trump wurde aufgefordert, die Hände von Venezuela zu lassen. Heute bestimmt keine unbillige Forderung. Ich sprach, etwas provozierend, einen Mann an, älter, ein Schild mit einer Yankee-Karikatur hochhaltend: „Ist doch vorteilhaft, wenn man innere Schwächen anderen anlasten kann.“ Er reagierte sofort: „Die ´Schwächen´ – er modulierte genüsslich das Wort – sind dem Boykott der USA geschuldet.“ „Nur? Gab es nicht vorher schon deutliche Fehlentwicklungen im Lande selbst?“ „Woher wissen Sie das?“ „Das Rückgrat der Wirtschaft wurde regelrecht gebrochen; das der Erdölwirtschaft. Sie wurde wie die Kombinate in der DDR dazu verdonnert, Sachen zu machen, die völlig artfremd waren wie Schuhe zu produzieren, Fleisch zu verarbeiten und Wohnungen zu bauen, noch dazu riesige Summen abzuführen. Ist alles in öffentlichen Quellen nachzulesen.“ „Und denen glauben Sie? Das Geld war nötig für die Alphabetisierung.“ Das war tatsächlich des Mannes Hauptargument: Alphabetisierung. Er führte sie mehrmals ins Feld. Auf meine weitere Vorhaltung, ob denn die Millionen Venezolaner, die aus dem Land flohen, nicht ein deutliches Zeugnis der desaströsen Lage im Lande ablegten, belehrte er mich, dass das vor allem Kolumbianer seien, die in ihre Heimat zurückkehrten, da „während des Bürgerkriegs dort sechs Millionen Kolumbianer nach Venezuela kamen, denen Chávez die venezolanische Staatsbürgerschaft gab.“ Sechs Millionen? Er nannte wirklich diese Zahl. Bei so vielen Neubürgern im Land – wäre ich davon überzeugt, dass es an dem gewesen wäre; ich hätte Venezuelas gegenwärtige Misere mit dem Durchfüttern dieser Menschen erklärt … Was die USA anlangt, waren wir uns schnell einig, dass sie sowohl hinter dem Putsch gegen Salvador Allende 1973 in Chile steckten als auch den Irakkrieg 2003 völkerrechtswidrig vom Zaune brachen. „Machen Sie´s gut, in Sachen Venezuela kommen wir nicht überein“, ich wandte mich ab und lief weiter durchs Brandenburger Tor.
Auf dem weiten Feld vor dem Reichstag ein Grüppchen, gruppiert um eine Art stehenden Würfel. Ein junger Mann fiel auf mit einer Warn-“Gelb“-Weste, darauf „Protest is not a Matter of Age“ oder so ähnlich – warum englisch? Natürlich ist Protest keine Altersfrage, wie Fridays for Future nahelegt. Zwei Ältere posierten mit Schwarz-Weiß-Rote Fahnen, eine Schwarzhaarige mit wirrer Frisur vervollständigte das Ensemble. Der Würfel: Die vier Seiten ordentlich bedruckt in Deutsch und den Sprachen der früheren Besatzungsmächte; auch in Russisch also. Gleich ganz oben das Postulat: Wir fordern die Siegermächte nach Paragraph sowieso auf, die „Entnazifizierung“ Deutschlands endlich zu vollziehen! Oha, dachte ich bei mir – eine Ent-NAZI-fizierung unter Schwarz-Weiß-Rot? Doch dann dort weiter im Text: Solange wie dieser Vorgang nicht abgeschlossen sei, sei Deutschland nicht souverän, eine GmbH in den Grenzen von 1933 undsoweiterundsofort. Die bekannte völkische Schwachsinns-Leier. Dass „wahre“ deutsche Souveränität und Staatlichkeit noch heute an eine von – ja wem, Reichsbürgern geforderte Entnazifizierung gekoppelt seien, war mir dann doch neu und verblüffend. Oder hat letzterer Begriff noch eine weitere Deutung, ja „Narrativ“? Beides müsste mir dann entgangen sein. Dass damals, als die Bestrafung der deutschen Kriegs- und Naziverbrecher und die gesellschaftspolitische, ideelle und kulturelle Läuterung nach der Apokalypse des „Dritten Reiches“ wirklich anstand, nicht konsequent genug gehandelt, ge- und verurteilt wurde, respektive der Vorgang in Teilen nur verordnet war, steht außer Frage; mit anderen als obigen Folgen bis heute.
Ein Ehepaar lief vorüber; er trug eine „Funktionsjacke“ mit einem Schildchen auf der Brust „Forstamt“. Ich sprach ihn an: „Entschuldigung, wie ich sehe, haben Sie es mit dem Wald zu tun. Ist dessen Zustand wirklich so beängstigend, wie allenthalben zu hören?“ „Ja, es ist noch schlimmer! Nicht nur Nadelbäume, nein auch Laubbäume, Eichen, Buchen, von denen wir dachten, dass sie resistenter seien, sterben ab. Schuld sind der Klimawandel und die Trockenheit.“ Er komme aus der Würzburger Gegend, wo es die größten Bestände an Laubwäldern gäbe, dort sei der Boden bis zur Tiefe von 1,90 Meter trocken. 150 bis 200 Jahre alte Bäume stürben jetzt ab. Es bedürfte eines sanften Regens von vier- bis fünfmonatiger Dauer, um dieses Defizit aufzufüllen. Nichts grundsätzlich Neues also; doch im schwäbischen Singsang mit leiser, unaufgeregter Stimme vorgetragen wirkte die Botschaft umso eindringlicher, überzeugender. Ich dankte dem Mann und entschuldigte mich für meine Aufdringlichkeit.
Ich schlenderte weiter am Reichstagsgebäude vorbei in Richtung Spreeufer. Touristendampfer zogen vorbei; wie gesagt, es war warmes Wetter. Kurze Zeit später hielt neben mir ein Paar; sie im Rollstuhl, er schob. Diesmal war ich der Angesprochene: „Excuse me, is that river the Spree?“ „Yes, it is“ – es waren New Yorker. Es folgte eine Frage zu den Gebäuden – gegenüber die Bibliothek des Bundestages, das ganze Band der Häuser, die zum im Reichstagsgebäude tätigen Bundestag gehören, ganz hinten, nicht zu sehen, das Kanzleramt. Dazu die Erklärung, dass das Reichstagsgebäude zwar auf den letzten deutscher Kaiser zurückginge, heute jedoch einer Demokratie diene. Mit einer Regierung, der gegenwärtig die Kanzlerin Angela Merkel vorstehe. Als hätten das Paar auf das Stichwort gewartet, belebten sich unisono die Gesichtszüge: „Yes, Chancellor Merkel, she is the leader of the western world.“ Der Kanzlerin Name mutierte – typisch amerikanisch – klanglich zu „Möörkel“; nicht unsympathisch. Was mich jedoch nicht abhielt zu konstatieren, dass Merkel wohl im Ausland mehr geschätzt werde als zuhause; die deutsche Bevölkerung sei momentan mit der Regierungsarbeit und namentlich auch mit Merkels politischem Engagement mehr als unzufrieden. „But look at the USA“ – womit wir unweigerlich bei Trump waren: „we are ashamed of him.“ Wir waren uns einig, wie der Mann charakterlich und politisch einzuschätzen sei. Dann ging es um das Impeachment und seine Wiederwahl. Was Ersteres angeht, so war auch das Paar ziemlich skeptisch hinsichtlich eines Erfolges; indes bezüglich letzterer überhaupt nicht. „But more or less 40 percent of the American people support the guy“, wandte ich ein. Worauf sie konterten „but 60 percent do not and we have to get them to vote.“
Ich schwöre, alles hat sich genau so zugetragen.
Die Welt sei strukturell nicht mehr erzählbar … Schon Hölderlin wusste Rat: „Komm! ins Offene, Freund!“ Lauschen wir den Erzählungen, die dort auf dem „Anger“, der „Agora“ zu hören sind. Und es zeigt sich: Das dort Gehörte und Erfragte ist nicht abstrakt, sondern zuverlässig im – richtigen wie falschen – Detail. In den Erzählungen, den Widerreden herrscht unmittelbarer Realismus, und gerade dieser birgt Einsichten. Es entsteht eine dynamische Verbindung zwischen dem, was erzählt wird, und dem, wie erzählt wird. Es geht dabei nicht um die Fertigkeit der Erzähler, sondern die Subjektivität, die Art ihres Erzählens. Diese erzeugt einen jeweils eigenen Typ der Kommunikation und macht es möglich, Erfahrungen zu versprachlichen, zu ordnen und zu interpretieren, über Einwände an (bisher) fremden Welten teilzuhaben. Beide – Erzähler und Zuhörer – kommen so „ins Offene“; es ist mehr als eine räumliche Metapher.
Schlagwörter: Hölderlin, Klimawandel, Reichsbürger, Stephan Wohanka, Trump, Venezuela