22. Jahrgang | Nummer 24 | 25. November 2019

Einig oder einzig?

von Klaus-Peter Möller

Das Theater als befreiende Anstalt. In den stürmischen Herbsttagen von 1989 wurde es zum Forum der Nation. Aufregender als die Vorstellungen waren die sich anschließenden Foyer-Gespräche, in denen wir uns darin übten, öffentlich unsere Meinung zu sagen, unsere wirkliche, nicht die uns abverlangte, vom Staatsbürgerkundelehrer mit einer respektablen Note honorierte. Das freie Wort, eine schwere Sache, aufregend, beglückend. Wir waren es nicht gewohnt. Wer vergaß, seinen Namen und Beruf zu nennen, wurde durch Zuruf daran erinnert. Solche öffentlichen Diskussionen gab es damals überall. Das Theater war seit je eine Schule des genauen Umgangs mit dem Wort, der exegetischen Spitzfindigkeit, eine subversiv wirkende Kraft, unbezähmbar, unbeherrschbar, kreativ. Der Ruf zum 4. November ging von den Theatern aus. Auch ich war ihm gefolgt. Mit einem mulmigen Gefühl im Bauch sah ich die Sicherheitskräfte, die sich in den Höfen um den Alexanderplatz vorbereiteten. Als ich in der Masse stand, die den Platz mit pfiffigen Sprüchen tapeziert hatte, war die Angst hinweggefegt. Ein ganzes Volk lässt sich nicht verhaften. Hier endeten die Versuche der Einschüchterung. Die Epoche der Freiheit hatte angefangen. Sie währte kurz.
Meine erste Reise in das Land der Freiheit unternahm ich gemeinsam mit meiner Studienfreundin Ilka am 10. November 1989. Wir trafen uns zufällig in der Schlange, die sich am Tränen-Palast gebildet hatte. Es war ein kleiner Schritt, überraschend in seiner Banalität. Es war ein Schritt in eine andere Welt. Begeistert berichtete sie von Theater-Proben mit ihrer Klasse. „Wir wollen sein ein einig Volk von Brüdern.“ Dass man das früher einfach so ungestraft sagen konnte, wie es ja auch in Potsdam, wo wir studiert hatten, einen Platz der Einheit gab. Natürlich, die Einheit stand mit großen Lettern auf den Fahnen der Republik, so groß, dass man sie gar nicht mehr sehen konnte. Was hatten wir nicht alles für Einheiten gehabt, zwischen Arbeiter- und Bauernklasse, das war die wichtigste, aber auch zwischen den verschiedenen Parteien, zwischen der Partei und dem Volk, der Armee und dem Volk, den Lehrern und den Schülern, den Schäfern und den Schafen … „Wieso einig“, warf ich ein, „muss es nicht heißen ‚einzig‘.“ – „Na hör mal. Das klingt ganz falsch, ‚ein einzig Volk‘ … “ – „Ist denn nicht einzig mehr als einig? Einigkeit setzt ein Gefüge disparater Elemente voraus. Erst wenn aus den Teilen, die da zusammenkommen, ein einziges, ununterscheidbares Ganzes wird, ist die richtige Einigkeit gewonnen.“ – „Du bist naiv!“ – „Und du sentimental!“
So stritten wir, mitten im Taumel der Begeisterung, der Küsse und Umarmungen, die uns umtosten, über ein Wort, einen einzigen Buchstaben, zogen unser Wissen herbei, das uns in den vergangenen Jahren beigebracht worden war, um Lehrer aus uns zu machen, Lehrer des Volkes, das nun zu einem „Wir“ geworden war, darauf insistierend mit unüberhörbarem Ruf, der Geschichte machen sollte und der sich änderte, während wir noch die verschiedenen Stufen der Sinnausdeutung herabstiegen, die Semantik mit ihren Sememen und Konnotationen untersuchten, die schillernde Aura, die jedes Wort um sich verbreitet, den historischen Kontext, um endlich bei der Etymologie Rat zu suchen, bei der wir zwangsläufig anlangten und mit deren Hilfe wir zu der verblüffenden Feststellung kamen, dass beide Wörter historisch aus derselben Wurzel gewachsen sind. „Bedeuten sie nicht gar dasselbe, für das 18. Jahrhundert zumal?“ – „Wieso das 18.? Der Tell steht an der Schwelle des 19. Jahrhunderts, dem wir immer noch nicht entwachsen sind im 20., an der Schwelle zum 21.“
Einer kam mit einer Flasche Sekt vorbei, wollte auch uns davon einschenken, aber wir hatten keine Zeit für ihn. Später fanden wir uns wieder in der Menge, die sich vor der Tribüne versammelt hatte. Politiker, die man aus dem Fernsehen kannte, einer fremden, unwirklichen Welt angehörend, schoben sich auf dem improvisierten Rednerpodest zurecht. Als der Kanzler des Staates, dem wir alle mit Haus und Haar einverleibt werden sollten, das Wort ergriff, begannen das Glockenspiel der Gedächtniskirche zu dröhnen, dass kein Wort mehr zu verstehen war. Es war auch keines mehr nötig. Die Geschichte selbst hatte gesprochen, jetzt ging es um den Leichnam ihrer Taten. Aber wir waren in diesem Augenblick erpicht auf große Worte, die uns die Früchte der Freiheit verhießen.
Welch ein Schritt vom 4. November zum 9. Es gab auch schon Stimmen, die warnten vor dem Einbruch des Neuen, das unsere Errungenschaften zertrümmern werde. Aber sollte man deshalb das Neue nicht begrüßen mit der ganzen Kraft der Seele? Die Zukunft will das Neue. Wir fragten damals nicht. Wenn es nur die alten Dämonen vertrieb, Raum schaffte, Luft zum Atmen, denn je freier man atmet, desto mehr lebt man. Das Alte hatte sein Recht verwirkt, und für das Neue wollten wir nun recht eigentlich leben. Ja, es war schon da, dieses Neue, – im Uralten, und als wir es erkannten, wendeten wir uns ab, in tiefster Seele beleidigt.
Auf dem Ku-Damm war ein roter Wagen aufgefahren, von dessen Ladefläche herab die Ware an die Ossis für „Alu-Chips“ verkauft wurde, so nannte man damals die Währung der „Noch-DDR“, um sie von der gewichtigeren West-Mark zu unterscheiden. Die da zu ihrem ersten Besuch ins Land der Sehnsüchte aufgebrochen waren, prügelten sich jetzt fast darum, eine Stiege mit Büchsen des langentbehrten Getränks zu erlangen, ja sie konnten es nicht erwarten, ihren Fang nach Hause zu schleppen, rissen die Verpackungen auf und mussten ihren Durst auf der Stelle löschen mit dem süßen, braunen Saft. Endlich. Der Geschmack der Freiheit. Den passenden Slogan lasen wir auf zahllosen riesenhaften Plakaten, die überall herumhingen und aufforderten: „Test the West“. Erst viel später habe ich verstanden, dass es ein Missverständnis war, dies politisch zu deuten. Es handelte sich einfach um Reklame für eine Zigarettenmarke. Zufällig hatte eine Werbekampagne ins politische Zentrum der Zeit getroffen.
Ich brauchte einen Stadtplan. Ich musste doch wissen, wo die Staatsbibliothek war und wie ich dort hinkam. Denn der Handschriftenabteilung am Potsdamer Platz galt mein erster Besuch. Eine Handschrift war dort zu studieren, nach der mein Herz lechzte. Ein Poet aus der Barockzeit, die zeitlose Gedichte hervorgebracht hat wie dieses:

Sei dennoch unverzagt, gib dennoch unverloren!
Weich keinem Glücke nicht, steh höher als der Neid,
vergnüge dich an dir und acht es für kein Leid,
hat sich gleich wider dich Glück, Ort und Zeit verschworen.

Zum Glück gab es das Begrüßungsgeld. Nur – welchen sollte ich nehmen? Das Wechselgeld lag schwer in der Tasche. Es kam nicht ins Portemonnaie. Die Kleingeld sollte sich nicht vermischen. Hier musste säuberlich geschieden werden.
Das ist nun dreißig Jahre her. So schnell vergeht die Zeit, und man wird zu einem Dinosaurier aus dem Tertiär, den die Kinder als Zeitzeugen befragen für ihre Hausarbeit im Fach Gewi. Wie war das damals? Wunderbar, großartig und banal zugleich. Man kann es kaum vermitteln. Die politische Situation im Jahr 1989, die Demütigungen, die Wut, die sich aufstaute, die Bilder der Prager Botschaft, die Sonderzüge. Die Stimmung auf dem Alexanderplatz am 4. November. Das wunderbare Volksfest in Berlin, das tagelang nach dem Mauerfall herrschte, die glückliche Zeit, die spontanen Begegnungen und Gespräche.
Ein Student, der im Fontane-Archiv, wo ich arbeite, die Zeitungsausschnittsammlung durchblätterte, fragte mich: Das Neue Deutschland erschien in Berlin. Was war das eigentlich für eine Zeitung. West oder Ost? 2019, am 4. November. Er war Jahrgang 1996. Da stellt sich freilich schon die Frage. Wie sollte ich ihm die Bedeutung dieser Zeitung erklären? Ich hätte die ganzen Plakate gebraucht, mit denen damals die DDR neu tapeziert wurde, die Beredsamkeit von Stefan Heym und Steffi Spira, von Heiner Müller und Christa Wolf, die Pfiffe, mit denen Markus Wolf und Günter Schabowski empfangen wurden, und die sieben Gaben, von denen Gerhard Schöne sang, besonders die siebente: „Und die Frechheit eines Flohes, der die großen Tiere dreist / dort, wo sie am meisten stinken, nicht hineinkriecht, nein beißt!“
Großmutter, warum hast du so große Zähne? Joachim Hamster Damm hatte die Karikatur gemalt. Den Namen des Künstlers kannten wir damals nicht. Aber gesehen haben wir es alle. Und gelacht.