von Jürgen Große
„Umkämpfte Zone“ von Ines Geipel will politische Denkschrift und zugleich Gegenwartsdiagnose sein, erzählt als Familiengeschichte. Sie beginnt mit dem Tod des bewunderten älteren Bruders 2018, berichtet von der gemeinsamen Kindheit in einer Dresdner SED-Funktionärsfamilie, von TV-Winterabenden im Weißen Hirsch und von Sommernachmittagen im Freibad, aber auch von väterlicher Gewalt und mütterlichem Schweigen, vom Fortgehen der Erzählerin in den Westen, vom Werden einer Gesellschaftskritikerin. Diese musste erfahren, dass ihre Großväter in der SS dienten und der Vater für die Staatssicherheit arbeitete. Die Erzählung endet mit dem Begräbnis des Vaters und dem Rumoren in Sachsen. Fazit: Zorn und Gewalt sind politische Mitgift eines Landesteils, in dem immer nur geschwiegen wurde über DDR-Schmerz wie NS-Schuld. Die Autorin will das „Schweigesystem“ aufbrechen oder, wie sie auch sagt: es „entschweigen“.
Ines Geipel, geboren 1960 als Ines Schmidt, hatte mit 17 Jahren eine Profikarriere als Leichtathletin begonnen. Sie strebte Olympiateilnahme an und benutzte wie viele Athleten in Ost und West leistungssteigernde Substanzen. Internationaler Medaillenerfolg blieb dennoch aus. Mitte der 1980er begann Geipel ein Literaturstudium in Jena; im Sommer 1989 wechselte die ehrgeizige junge Frau, noch SED-Mitglied, in den Westen. Geipel ließ sich nun von der CDU-nahen Adenauerstiftung fördern und wurde vom Biologieprofessor Werner Franke – heute ihr erbitterter Kritiker – als Kronzeugin in Sachen Dopingkriminalität aufgebaut. Regelmäßig veröffentlicht sie Gesellschaftsdiagnosen, außer zum Doping auch zu Amokläufen oder Gewaltneigung in Deutschland. Geipel interpretiert solche Phänomene aus DDR-typischen, autoritären Zwängen oder als deren Folgen; ihr wichtigstes Wort hierbei: „Verdrängung“. Treten dieselben Phänomene auch im Westen auf, revidiert Geipel die frühere These nicht, sondern dehnt sie auf die gesamte Gesellschaft aus, nunmehr gedeutet als Leistungsgesellschaft, Männerherrschaft, Vertuschungskollektiv. Geipel wurde so zu einem stets auskunftstüchtigen Talkshowgast, vergleichbar Christian Pfeiffer, Hubertus Knabe und ähnlich unbefangenen Generalisten. Als Vertreterin der Dopinggeschädigten mußte sie 2018 zurücktreten. Deren Ansprüche hatte Geipel mit umstrittenen Zahlen und in einer stark politisierten Täter-Opfer-Rhetorik vorgetragen.
Ein Anspruch auf Opferstatus prägt auch Geipels jüngstes Buch. Die Autorin tritt darin als Anklägerin, Richterin und potentielle Therapeutin der Ostdeutschen auf. Ihr Angebot: Sobald sich der Osten zur doppelten Erbschuld von „50 Jahren Diktaturgeschichte“ bekennen würde, winke ihm die ersehnte „öffentliche Anerkennung seiner langen Schmerzgeschichte“. Die politische Gewaltneigung aus Schmerzverdrängung ließe nach. Als DDR- und Post-DDR-Erklärerin kam Geipel damit in den wichtigsten Funk- und Printmedien zu Wort, ohne auf irgendwelche Skepsis zu stoßen. Von der taz bis zum ZDF wurde „Umkämpfte Zone“ fast andächtig aufgenommen. Ihre Autorität als Ost-Analytikerin begründet Geipel mit den persönlich erlittenen Traumata. Sie nennt ihre Familiengeschichte „exemplarisch“ (Cicero vom 23. April 2019). Eine DDR-“Kindheit war eine Kindheit im Terror“. Den Bruder und sich selbst sah Geipel früh leiden „wegen der Zeit und wegen dem [! – J.G.] Osten“ überhaupt. Zum prügelnden Vater: „Ich will, dass klar ist, dass es nichts Einzelnes ist. Der enthemmte Mann ist kein Einzelner. Er ist ein Stellvertreter, nicht mehr und nicht weniger.“ Vehement bekämpft Geipel das Bild der emanzipierten Ostfrau: „Aber was ist mit unseren starken Müttern und ihren elenden Verantwortungslosigkeiten, die die Gewalt der Männer nicht stoppten, sondern sie oft genug geschehen ließen, die sie wegguckten und ein Leben lang ausschwiegen?“ Über viele Buchseiten fließt die Rede von „Gewaltkultur“ und „Männergewalt“ als DDR-alltagstypisch.
Das Wort Hass im Untertitel zielt nicht auf eigene Gefühle, sondern auf die Immigrationsphobie in Deutschlands Osten. Geipel will in ihr ein Post-DDR-Phänomen sehen: ein untherapiertes Schuld- und Schmerzkollektiv wehre sich gegen die Zumutung des Neuen. „Umkämpfte Zone“ war somit auch Mahnruf für die gute (CDU-)Sache im Wahljahr 2019 – und ist unverkennbar mit heißer Nadel gestrickt. Ein atemloser Alarmstil aus Kurz- und Halbsätzen, Synonymkaskaden, Pluralpreziosen: „Tektonikverschiebungen“, „Ausatmungen“, „Kontinuitäten“, „Transmissionen“. Gelehrte Einschübe kitten die Erinnerungsfetzen zur Großthese „Verdrängung“, beglaubigt durch Autoritäten: „schrieb der Psychoanalytiker Hans-Joachim Maaz“, „schreibt der Nobelpreisträger Imre Kertész“, „wie Erich Fromm betonte“, „wie Karl Mannheim bereits in den zwanziger Jahren formuliert hat“. Forsche Entlarvungspsychologie dominiert. In den beliebten DEFA-Indianerfilmen, liest man etwa, „in den mythischen Weiten der rotgehäuteten Brüderlichkeit brachten die Mauerkinder die auf sie übertragene Schuldmasse der Eltern- und Großelterngeneration wenigstens stundenweise unter“.
Das Buch wird lesbar, sobald Geipel sich aufs Erzählen beschränkt. Allerdings gibt es darin kaum ein Phänomen, dem sie nicht sogleich die Deutung nachliefert. Häusliche Gewalterfahrung verbürgt unmittelbar totalitarismuskritische Erkenntnis. Nur rhetorisch das Zögern: „Braucht es das alles? … Ja, unbedingt. Es ist der Spiegel für die verleugneten Instanzen im Innern.“ Man erfährt, dass die Autorin viele Jahre in Eliteinternaten verbrachte. Den üblichen Leistungsdruck in solchen Einrichtungen deutet sie als DDR-systemspezifisch. Was realen DDR-Alltag schichtübergreifend prägte, begegnet bei Geipel häufig nur als sekundärliterarischer Einschub mit klarer Botschaft. Die Autorin dankt abschließend dem SED-Diktaturforscher „Jochen Staadt für seine passgenauen Gedanken in Sachen Ost-Historie“.
Westdeutschlands „seriöse Vergangenheitsbewältigung“, meint Geipel, müssten die Ostdeutschen endlich nachholen, befänden sie sich doch „erinnerungspolitisch in den siebziger Jahren“. Wie Trophäen präsentiert „Umkämpfte Zone“ versprengte NS-Funktionäre, die in DDR-Institutionen unterkamen. Beharrlich spricht Geipel von der „postfaschistischen DDR“. „Faschismus“ bedeutet ihr eine Affektmasse, die „verkapselt“ durch die Jahrzehnte wanderte, geradewegs zum Rechtsdrall der Dunkeldeutschen 2019. Nicht die Erfahrung der frühen Einheitsjahre, sondern die Traumata von 1933–1989, die „lang aufgestaut“ waren, seien am wutbürgerlichen Heute schuld. Der Oststaat sei verantwortlich auch für das, was nach seinem Kollaps geschah. Er hatte diktiert, nicht (psycho)therapiert.
Die fatale Vergangenheit der „Zonen“bewohner lässt sich freilich nicht austauschen. Die Frage, was konkret zu tun sei, bringt die Autorin regelmäßig in Verlegenheit. In Interviews zur Buchbewerbung raunt sie einerseits von „Konzepten“ und „Narrativen“ für „den toxisch braunen Osten“, die „es braucht“. Andererseits erklärt sie, dass sie keine Lösungen habe, jedenfalls „keine einfachen“. Nur dass – endlich und energisch! – geredet werden müsse, scheint klar. Geipel will die Ostdeutschen aus ihren „labyrinthischen Schweigeräumen“ führen. Sie selbst schweigt in „Umkämpfte Zone“ zu eigener „System“-Verstricktheit, suggeriert bei ihrer Werbetour, dass sie in der DDR nie studieren durfte, erklärt gar: „Ich wusste nichts vom Inneren des Systems oder etwa von diesem kranken DDR-Sport.“ (NZZ vom 10. September 2019) Eine deutsche Karriere?
Ines Geipel: Umkämpfte Zone. Mein Bruder, der Osten und der Hass, Klett-Cotta, Stuttgart 2019, 377 Seiten, 20,00 Euro.
Schlagwörter: "Umkämpfte Zone", DDR, Ines Geipel, Jürgen Große, Opferstatus