22. Jahrgang | Nummer 21 | 14. Oktober 2019

Der Fall Maria Flint

von Dieter Naumann

Im Juli 2019 berichteten lokale Medien über Ausgrabungen in Stralsund, bei denen ein zum Birgittinnenkloster Mariakron gehörender Friedhof freigelegt wurde. Da auf diesem Friedhof bis ins 18. Jahrhundert Arme und Hingerichtete bestattet wurden, kam das Gerücht auf, unter den vorgefundenen Gebeinen könnten auch die der Maria Flint sein.
Wer war diese Maria Flint? Kompetente Antwort gab der Gründer des „Provinzialmuseums für Neuvorpommern und Rügen“ (heute „Stralsund-Museum“), Rudolf Baier. In „Stralsundische Geschichten“, 1902 in der Königlichen Regierungs-Buchdruckerei Stralsund erschienen, fasste er von ihm bereits in den 1880er/1890er Jahren in der Stralsundischen Zeitung geschilderte Ereignisse zusammen, darunter auch die Geschichte der Maria Flint. Baier berief sich dabei vor allem auf „ein umfangreiches Aktenkonvolut aus dem hiesigen städtischen Archive in Verbindung mit dem Ratsprotokollbuche von 1765“.
Katharina Maria Flint, Tochter eines Stralsunder Schuhmachers, arbeitete ab 1761 als Nähmädchen auf dem Domanialgut Gagern auf Rügen unter dem damaligen Pächter Diek. Während dieser drei Jahre dauernden Beschäftigung war die als ungewöhnlich schön beschriebene Flint den Nachstellungen ihres Dienstherrn und seiner Söhne ausgesetzt. Fast drei Jahre hatte sie „diesen Angriffen auf ihre Ehre siegreich widerstanden“, kurz vor Michaelis (29. September) 1764 wurde sie jedoch schwanger. Kindsvater war Johann Diek, einer der Söhne des Pächters und Leutnant eines schwedischen Husarenregiments. 1765 kehrte die nun 26-jährige Flint in ihr Elternhaus, eine Wohnung im Sankt Johanniskloster in Stralsund, zurück und arbeitete weiterhin als Näherin. Aufkommende Gerüchte, die ledige Bewohnerin des Klosters habe ein heimlich geborenes Kind „bei Seite geschafft“, wurden auch dem Stralsunder Rat bekannt, der Untersuchungen einleitete. Nach eigener aktenkundiger Aussage hatte sie um Pfingsten „ein lebendes Kind zur Welt gebracht, solches vorsätzlicherweise erwürget und es darauf, als es sich nicht weiter gereget, verscharret“. Die Flint, inzwischen elternlos, hatte sich verzweifelt um Beistand bittend an den Kindsvater gewandt, sei von diesem aber hart zurückgewiesen worden. Pastor Müller (späterer Beistand der Flint) berichtete, Diek habe zugegeben, die Flint geschwängert zu haben; er habe „sich ihrer fast mit Gewalt bemächtigt […], da sie sich als Nähmädchen in seiner Eltern Haus drei Jahre ihm widersetzet“.
Die Untersuchungen wurden durch das Stralsunder Gericht vorgenommen und die Akten der Rostocker Juristenfakultät vorgelegt. Auf Grund von deren Gutachten wurde die Flint verurteilt, „mit dem Schwerte vom Leben zum Tode gebracht“ zu werden. Zur Erinnerung: Zu jener Zeit galt noch die peinliche Gerichtsordnung Karls V. (Constitutio Criminalis Carolina), die für Kindstötung das Ertränken der Täterin vorsah, was jedoch vielerorts, so auch in Stralsund, durch die „mildere“ Schwertstrafe ersetzt wurde.
Nach der Verkündung des Urteils nahm der Fall eine überraschende Wende. Johann Diek, der eben noch jede Unterstützung für die Flint abgelehnt hatte, unternahm plötzlich alles, um sie vor dem Schafott zu retten. Bewiesen ist der Versuch, den Obergerichtsdiener Burmeister, der damals die Kustodie (das Gefängnis) beaufsichtigte, zu bestechen, um von ihm Mittel und Wege zur Befreiung der Flint zu erfahren. Gerüchteweise sollen bis zu 700 Reichstaler geboten worden sein. So habe Diek selbst dem Burmeister „ebenmäßig sein besonderes Verlangen, die Maria Flinten aus dem Gefängnis zu erretten, zu erkennen gegeben, auch dabei viel von Erkenntlichkeit und Belohnung gesprochen“.
Alle Bestechungsversuche scheiterten jedoch. Diek sah nun keine andere Möglichkeit als die Anwendung von Gewalt zur Befreiung der Flint, wobei er sich der Unterstützung durch seine Kameraden sicher sein konnte.
In diesem Zusammenhang ist anzumerken, dass zwischen den Stralsunder Bürgern und den bei ihnen stationierten Militärs eine ausgeprägte gegenseitige Abneigung herrschte. Die Bürger sahen in den Offizieren nur Wüstlinge, die der Sitte und bürgerlichen Umgangsformen Hohn sprachen, während die Offiziere die Bürger als langweilige und rigorose Pedanten betrachteten. „Den Bürger maltraitieren, der Obrigkeit Hohn sprechen, dem Gesetze Trotz bieten“ galt laut Baier vor allem den jüngeren Offizieren als ein ihnen standesgemäß zukommendes Privileg. Jetzt, schrieb Baier, ging es nicht mehr um eine Privatangelegenheit des Diek, „die Sache ist jetzt eine Angelegenheit des Esprit du Corps (Korps-, Kameradschaftsgeist) geworden, welcher in der Befreiung der Flint den Sieg der militärischen Gewalt über die bürgerliche feiern will“.
Da die Hinrichtung für den 8. November vorgesehen war, stand Diek unter Zeitdruck und plante die Entführung der Flint in der Nacht vom 28. zum 29. Oktober. Dies wurde den Gerichtsherren am Abend des 28. Oktobers gerüchteweise bekannt, angeblich wurde darüber in allen Weinhäusern gesprochen. Hektisch wurden vor der Kustodie sechs Nachtwächter positioniert und eine nahegelegene Militärhauptwache „auf den Fall eines Lärmens der städtischen Wache“ um Unterstützung gebeten. Man glaubte sich hinlänglich gesichert zu haben.
Doch kurz nach drei Uhr morgens drang plötzlich eine Gruppe von mindestens 30 Personen mit geschwärzten Gesichtern, bewaffnet mit Äxten, Säbeln, Pallaschen (eine Hieb- und Stichwaffe) und Schusswaffen in Richtung Kustodie vor. Sechs der Angreifer stürmten in das Gefängnis, zerschlugen die Schlösser und führten Maria Flint zu einem am Knieperteich bereitstehenden Boot, mit dem das gegenüber liegende Ufer erreicht wurde. Von dort setzten Flint, Diek und ein weiterer Begleiter die Flucht fort, bis sie bei Jarmen preußisches Gebiet erreichten.
Zwischen den übrigen Angreifern und den Wächtern vollzog sich inzwischen eine fast 45 Minuten dauernde Auseinandersetzung, in deren Folge es zahlreiche Verletzte und mindestens vier Tote gab. Das zur Unterstützung erbetene und ursprünglich auch zugesicherte Militär erschien entweder überhaupt nicht oder zu spät oder griff nicht ein.
Der Stralsunder Rat war in seiner Autorität erheblich geschädigt, noch dazu durch jene, die zur Sicherung der öffentlichen Ordnung bestimmt waren und ihn nun obendrein verspotteten. Die Bürger, die der Obrigkeit Auskünfte geben wollten, scheuten sich aus Angst vor den Offizieren davor. Dennoch bemühte sich die Stadt um Aufklärung und wandte sich zusammen mit den Landständen (Ritterschaft und Städte) sogar beschwerdeführend an den König, weil die zuständige Kriegsgerichtsbarkeit offenkundig bestrebt war, die Sache zu verdunkeln. Es sollen sogar Soldaten, die möglicherweise befragt werden könnten, zur Desertation überredet oder weggeschickt worden sein.
Wieder kam es zu einer überraschenden Wende: Am 2. Dezember stand Maria Flint vor der Kustodie und bat, ins Gefängnis zurückgeführt zu werden, da sie keine Ruhe mehr finde und den Tod erleiden wolle. Man konnte, so Baier, erwarten, dass der Rat angesichts der freiwilligen Rückkehr um landesherrliche Begnadigung oder wenigsten Strafmilderung ersucht hätte. Noch galt aber die Rechtsauffassung, dass Strafe nicht Sühne für subjektive Schuld, sondern unabänderliche Vergeltung der objektiven Tat zu sein habe.
Dazu Baier: „Das Volk sah in der armen Sünderin, welche sich freiwillig dem verdienten Tode stellte, eine büßende Heldin.“ Die Vollstreckung des Urteils am 20. Dezember 1765 erfolgte unter großer öffentlicher Anteilnahme.
Die erwähnten Beschwerden der Stadt und der Landstände blieben in Stockholm nicht ohne Wirkung. Ende 1766 verurteilte das pommersche General-Kriegsgericht Leutnant Johann Diek und zehn seiner Komplizen zum Tode. Im März 1767 wurde die Strafe von Diek durch König Adolf Friedrich von Schweden auf 28 Tage Gefängnis und einjährige Degradierung „gemildert“. Auch die anderen zehn Todeskandidaten wurden zu Gefängnisstrafen begnadigt. 1769 wurden Johann Diek und seine zwei Brüder durch Kaiser Joseph II. geadelt und nannten sich fortan „von Dyke“. Johann von Dyke starb 1782 als Stabsrittmeister in Schweden.
Maria Flint gilt als eine der Vorlagen für das Gretchen in Goethes „Faust“.