22. Jahrgang | Nummer 19 | 16. September 2019

Vom Bilderstreit zur Leistungsschau

von Joachim Lange

„Point of No Return“ – also der Punkt auf einem Weg, der, sobald er überschritten ist, eine Umkehr nicht mehr möglich macht oder als sinnvolle Handlungsoption ausschließt – als Titel einer Ausstellung in Leipzig? Über die Kunst, die im Osten Deutschlands vor und nach der sogenannten Wende entstand? Wenn man den Titel für bare Münze nimmt, kommt man ins Stolpern. Nicht nur, weil es nervt, eine solche Ausstellung mitten in (Ost-)Deutschland über eine recht spezielle deutsche Angelegenheit Englisch zu betiteln. Anglizismen in der Sprache sind so etwas wie Tattoos auf der Haut. Meistens völlig überflüssig und eine Kampfansage an den guten Geschmack. Aber wohl nicht mehr zu vermeiden.
Man könnte auch gegen den Untertitel „Wende und Umbruch in der ostdeutschen Kunst“ einwenden, dass er den Begriff der Wende aufnimmt. In die Welt gesetzt hat ihn aber der letzte SED-Parteichef Egon Krenz. Und der hat etwas ganz anderes damit gemeint als das, was heute jeder damit verbindet. Nämlich eine Melange aus „Wir sind das Volk“-Demos, Massenausreise, Schabowskis Zettel und Mauerfall, freien Wahlen in der DDR und dem Beitritt, der dann als „Wiedervereinigung“ begrifflich aufgehübscht wurde.
Aber lassen wir das Genörgle an einer Mode, die mehr Unart ist. Denn was dem Museum der bildenden Künste Leipzig und seinem aus Österreich stammenden Direktor Alfred Weidinger zusammen mit den beiden Kuratoren Paul Kaiser (der vor kurzem in Dresden den Mangel ostdeutscher Kunst in deutschen Museen beklagt hatte) und Christoph Tannert hier gelungen ist, das imponiert.
Nicht nur wegen der puren Fülle der gezeigten Werke. Sondern auch, weil die Ausstellung über Malerei, die in der DDR entstand, die sich aber auch mit der Wende und mit deren Nachwirkungen auseinandersetzt, hier mal nicht im Keller präsentiert wird, sondern in der oberen Etage, über den Klinger- und Beckmann-Heiligtümern des Hauses. Sage keiner, das sei kein Zeichen! (Unter Weidingers Vorgänger gab es solche Großunternehmen, wenn überhaupt, nur im Keller …)
Jetzt sind auf etwa 2000 Quadratmetern 300 Werke von 106 Künstlerinnen und Künstlern versammelt. Es gibt keine chronologische Ordnung, keinen roten Faden. Aber die Räume um den Hauptsaal gruppieren die Werke unter thematischen Stichworten wie „Risse im Gehäuse“, „Die reizende Mauer“, „Quo vadis?“, „Artisten und Masken“ oder „Andere Wege“.
In der Mitte des Hauptsaales: Via Lewandowskys „Berliner Zimmer (Geteiltes Leid ist halbes Elend)“, das die deutsche Teilung auf das heimische Wohnzimmer herunter bricht. Hier ist alles mitten durchgetrennt.
Daneben, auch mitten im Raum, Hans Scheibs Holzplastik „JC (Zweifel)“ aus dem Jahre 1984. Eine magere Gestalt, deren Gesichtsausdruck an Munchs „Schrei“ erinnert.
An der Wand dahinter: Wolfgang Smys „Großes Stadtbad“ (1986) mit vereinzelt in schwefligem Gelb Ertrinkenden, das schon auf der X. Kunstausstellung der DDR in Dresden die Gemüter erhitzte, gleichwohl seine prophetisch beklemmende Wirkung entfalten konnte. Darüber Einar Schleefs zwischen 1978 und 1983 entstandene Telefonzellen-Bilder „Klage“, mit denen der 1976 in den Westen gegangene und 2001 verstorbene Theatersolitär postum auch als Maler von Rang bekannt wurde.
Ausstellungen über die Malerei, die in der DDR entstand, waren noch Jahrzehnte nach deren Untergang, ein Garant für Kontroversen, apodiktisch (ab-)wertende Urteile auf der einen und empfindliche Reaktionen auf der andere Seite. Was nur belegt, wie wichtig Kunst im Osten Deutschlands war und auch als Projektionsfläche für Identifikation immer noch ist.
Die zentralen Kunstausstellungen der DDR in Dresden brachten es 1987/88 bis zur laufenden Nummer X und wie ihre beiden Vorgängerinnen auf über eine Million Besucher! Inklusive vergleichsweise kontroverser öffentlicher Debatten, soweit die unter DDR-Bedingungen möglich waren.
Vor diesem Hintergrund verwunderte die Heftigkeit des sogenannten deutsch-deutschen Bilderstreits nicht. Der eskalierte 1999 mit der Weimarer Ausstellung „Aufstieg und Fall der Moderne“, die die Kunst der DDR in die Nähe der Nazi-Kunst rückte. Wenn es die Künstler nicht mit Auftraggebern wie Kirche, Staat oder Partei zu tun haben, dann sind es die Marktmechanismen, vermittels derer letztlich mächtige Galeristen bestimmen, was Kunst ist und was nicht. Allein der Ort, an dem gearbeitet wird (also im Lande, im inneren oder äußeren „Exil“) ist es nicht. So sind auch nicht alle, die in den Westen gingen, allein schon deshalb bedeutend. Und nicht alle, die im Osten blieben, schon allein deshalb „Arschlöcher“, wie es Georg Baselitz, also einer von denen, die in den 1950ern selbst gegangen sind, noch 1990 in die Debatte rülpste.
Seither gab es etliche thematische Ausstellungen, die für mehr Sachlichkeit sorgten und darauf setzten, dass jedes echte Kunstwerk einen Eigenwert hat. Zum Kontext ihrer Entstehung gehört im Falle der „Künstler in der DDR“ auch deren Geschick, mit subversiver Raffinesse ihre Subjektivität zu bewahren. Über all das kann man in der Leipziger Ausstellung viel lernen.
In ihrem Erfindungsreichtum, parteioffizielle Vorgaben zu umgehen, waren DDR-Künstler oft nicht weniger phantasievoll als ihre Vorfahren im Umgang mit der Kirche. Doch spätestens in den Achtzigern nahm auch die direkte oder vermittelte Reflexion der Krise und des Drangs nach Veränderung immer breiteren Raum ein. Andere wie Hans-Hendrik Grimmling, Volker Stelzmann, Cornelia Schleime, Christine Schlegel, Ralf Kerbach oder Via Lewandowsky verließen die DDR, kamen gleichwohl thematisch nie wirklich von ihr los.
Im Lande bezog etwa der Pop-Art-Pionier Wasja Götze mit seinem Bild „Die reizende Mauer“ (1988) mit Witz Position. Frontal düster hingegen Trak Wendisch mit „Mann mit Koffer“ (1983) und „Zungenabschneider“ (1988).
Auch der Umbruch selbst und seine Folgen spiegeln sich in den Bildern wieder. Als Polemik gegen die neuen Verhältnisse bei den einen (Willi Sittes „Erdgeister“ von 1990 etwa), als pure Freude bei anderen, wie bei Erika Stürmer-Alex mit „Auffliegende Pantoffeln“ (1991). Oder bei Werner Tübke, der mit „Herbst ’89“ (1990) in der manierierten Geste des sozialistischen Malerfürsten die Maueröffnung protokollierte.
Bernd Schlothauer bringt die Veränderung der Verhältnisse in „Hammer und Sichel“ (1989) auf den Punkt ihrer Symbole: die werden kurzerhand auf den Kopf gestellt.
Der nahe Leipzig geborene Albrecht Gehse schließlich hat, wie sein Lehrer Bernhard Heisig bei Helmut Schmidt, von dessen Nachfolger 2003 mit „Bundeskanzler a. D. Helmut Kohl“ das offizielle Kanzlerporträt geschaffen.
Moritz Götze wiederum steht für einen spielerisch ironischen Umgang mit dem Erbe der ins kollektive Gedächtnis eingebrannten Bilder wie dem 2003, über drei Jahrzehnte nach dem Original entstandenen „Paar am Strand (nach Walter Womacka)“ oder dem „Chemiearbeiter am Schaltpult (nach Willi Sitte)“.
Die meisten Bilder sind Zeugnisse künstlerischer Subjektivität und malerischen Könnens. Stehen also nicht nur als Belege einer Epoche, sondern ganz einfach auch für sich. Die Ausstellung bietet darüber hinaus selbst für die mit der DDR Kunst vertrauten Besucher Neues. Der Zyklus „Große Passage“ der Leipziger Malerin Doris Ziegler aus den Jahren 1988–93 etwa kommt hier das erste Mal zu Ausstellungsehren.
Die Leipziger Schau hat auch etwas von Wiedergutmachung. Vor allem ist sie aber eine Rückbesinnung auf einen Teil der deutschen Malerei, die im Osten des Landes entstanden ist, die die dort herrschende Utopie und Verzweiflung ebenso zeigt wie die künstlerisch subversive Unterwanderung der Repression oder den empörten Aufschrei von außen. Ihr Vorzug: Hier wird zwar kommentiert und konfrontiert, aber sowohl die in der DDR offiziell anerkannte, wie die gerade noch geduldete oder in den Untergrund oder aus dem Land getriebene Kunst als Teil eines Ganzen gezeigt. Auch das macht diese Schau so spannend.

Noch bis 2. November 2019, Museum der bildenden Künste Leipzig, Di–So 10–18, Mi 12–20 Uhr.
Katalog zur Ausstellung, herausgegeben von Alfred Weidinger, Paul Kaiser und Christoph Tannert, Hirmer Verlag München, 440 Seiten, über 240 Abbildungen (im Museumsshop für 35,00 Euro, im Buchhandel für 45,00 Euro).