von Jürgen Große
Vor einem Vierteljahrhundert starb Karl Popper,
Antikommunist und Philosoph der „Offenen Gesellschaft“.
Hat sie sich inzwischen zu Tode gesiegt?
Karl Raimund Popper wurde 1902 ins Wiener Großbürgertum hineingeboren. Der Vater war vom jüdischen Glauben zum Protestantismus übergetreten. Seinen sozialen Impuls – Dr. Simon Popper kümmerte sich um die vielen Obdachlosen der Stadt – schien er auf den Sohn vererbt zu haben. Nach dem Zusammenbruch der Monarchie schloss sich der junge Karl Popper den Sozialisten an. Deren dialektischer Politikbegriff stieß ihn jedoch ab: Wo die politisch radikalste Fraktion von Klassenkonflikten sprach, die man zuspitzen und zur sozialen Revolution führen müsste, entdeckte Popper nur moralische und intellektuelle Anmaßung. Er wurde Antikommunist und bald auch Antimarxist. Bis an sein Lebensende sollte sich daran nichts ändern.
Nach einer Tischlerlehre und einer kurzen Zeit als Erzieher von Armenkindern schrieb sich Popper an der Wiener Universität ein. Der vielfach Begabte fand rasch zu einer Gruppe wissenschaftstheoretisch Interessierter, die als Wiener Kreis berühmt werden sollte. Man diskutierte dort die Grundlagenkrise von Mathematik und Physik, verursacht unter anderem durch die Relativitätstheorie. Nicht mehr die Evidenz wissenschaftlicher Erkenntnis, sondern ihre Rechtfertigung galt nun als Problem. Zusehends Zweifel erweckte ein Modell, das als Verifikationismus bekannt geworden ist. Wissenschaftliche Erkenntnis gewinnt man ihm zufolge durch theoretische Verallgemeinerung empirisch bewahrheiteter (verifizierter) Aussagen. Popper brachte dieses Modell zu Fall, indem er zeigte, dass sich unbezweifelbare Aussagen derart weder gewinnen noch rechtfertigen lassen. Erfahrung ist eine negative Instanz; sie sagt uns, welche Theorie in ihrem Allgemeinheitsanspruch nicht mehr haltbar ist. Wer wissenschaftlich ernst genommen werden will, muss Hypothesen aufstellen, die durch Tatsachen widerlegbar – „falsifizierbar“ – wären. Popper nannte sein Konzept „Kritischer Rationalismus“. Der Name zitiert den Rationalismus von René Descartes wie die Aufklärungsphilosophie generell.
Aus dem „angeschlossenen“ Österreich emigriert, blieb Popper als Professor in London, wo er, inzwischen geadelt, am 17. September 1994 starb. Durch seine 1934 veröffentlichte Logik der Forschung war er in der englischsprachigen Welt zu einem Klassiker der Wissenschaftstheorie geworden. Größere Bekanntheit hatte Popper durch seine Totalitarismuskritik erlangt. Sie war von dem Versuch geprägt, die Erkenntnismethodologie als Vorbild sozialer Gestaltung zu nutzen. Wir sollten uns auch im sozialen Ganzen, meint Popper, stets eingedenk unserer individuell begrenzten, fehlbaren Einsicht verhalten. Wer Gesellschaft im Ganzen zu überschauen und zu regulieren beansprucht, denkt totalitär – Popper sagt meist: „holistisch“ („holon“, griechisch „Ganzes“). Er sucht nicht mehr rational ausweisbare, sondern autoritäre Lösungen.
Die Kritik an den philosophischen Vertretern solcher Lösungen trug Popper in Das Elend des Historizismus (1944/45) vor, bereits im Titel eine polemische Anspielung auf Marx’ Elend der Philosophie. Mit dem Kunstwort „Historizismus“ bezeichnete Popper den Glauben an objektive, sich unabhängig vom individuellen Wissen und Wollen vollziehende Geschichtsgesetze, die politisch nutzbar seien. Dagegen setzte Popper das wissenschaftlich etablierte Verfahren von „Versuch und Irrtum“. Es legt eine soziale „Stückwerkstechnik“ (piecemeal engineering) nahe, bei der im Irrtumsfall nur Theorien, nicht Menschen sterben müssten. Der (natur)wissenschaftlich geschulte, sich seiner Vernunftschranken stets bewusste Sozialingenieur, nicht der „holistische“ Planer mit seinen so großartigen wie gewaltsamen Lösungen sollte das Gesellschaftsganze gestalten. Im Idealfall sei das ein sozialstaatlich gemilderter Kapitalismus.
Der Name für diese Gesellschaftsform findet sich im Titel von Poppers zweitem sozialphilosophischen, überaus polemischem Hauptwerk: Die offene Gesellschaft und ihre Feinde (1945). Die Unterscheidung von offener und geschlossener Gesellschaft sei identisch mit jener von Individualismus und Kollektivismus, von autoritär-dogmatischem und rational-falsifizierbarem Denken. Die negativen Parts dieser Alternativen sah Popper jeweils bei Platon, Hegel und Marx.
Mit seinem Buch wurde Popper zum Stichwortgeber des Antimarxismus der zweiten Jahrhunderthälfte. Doch zählte er Marx – im Gegensatz zu Platon und Hegel – zu den „Befreiern der Menschheit“. Das Schicksal der arbeitenden Klassen, mithin der Grundkonflikt der modernen Gesellschaft, habe Marx ehrlich bekümmert. Allerdings hätte Marx, verantwortlich für die „bis jetzt reinste, am weitesten entwickelte und gefährlichste Form des Historizismus“, durch seine Prophezeiungen globaler Umbrüche verhängnisvoll gewirkt. Die Klassenschlachten des 20. Jahrhunderts gingen auf sein Konto.
In der westdeutschen Nachkriegsgesellschaft reüssierte Popper damit zum Standarddenker sozialer Experimentierfeindlichkeit. Theoretikern der Studentenbewegung galt der Kritische Rationalismus als herrschaftsblinder Positivismus. Schon der sogenannte Positivismusstreit in der Soziologie von 1961/69 hatte im Zeichen von Evolution versus Revolution gestanden. Stolz verwiesen Popperianer darauf, dass Kanzler Schmidt sich Sir Karl im Abscheu gegen größere politischen „Visionen“ nahe gefühlt habe. In Österreich reichte das Lager der Popperanhänger von Franz Sinowatz (SPÖ) bis Jörg Haider (FPÖ).
Freilich sah Popper sich selbst nicht nur als Antimarxisten, sondern als Feind jeglicher totalitärer, auch rassistischer oder technokratischer Utopien. Von Hannah Arendts Totalitarismusanalyse trennte ihn sein entspanntes Verhältnis zum Imperialismus. Popper rechtfertigte die weltweiten US-Interventionen mit der Formel „Kriege führen für den Frieden“. Als typischen Totalitarismustheoretiker wies Popper die Polemik gegen Faschismus und Kommunismus aus. Da – zumindest nach dem 8. Mai 1945 – in Deutschland niemand mehr ein Nazi sein wollte, blieb als Gegenentwurf „offener Gesellschaft“ allein der Realsozialismus.
Als Philosophie des Kalten Krieges war der Popperianismus bereits vor 1990 für die westliche Hochschuljugend kaum noch attraktiv. Anders sah das im postsozialistischen Osteuropa aus, wo zahlreiche Open Society Institutes entstanden. Hier gilt Popper bis heute als Heros eines philosophisch aufgerüsteten Liberalismus und als seinerseits siegreicher Prophet, denn er hatte eine Konvergenz der Industriegesellschaften vorausgesagt. Doch bleibt die Aktualität eines derart polemischen Denkens wie des Popperschen offensichtlich an die Vitalität seiner Gegner gebunden. Mit der kommunistischen Weltbewegung war der Open Society nicht nur der weltanschauliche Widerpart abhanden gekommen, sondern auch die globale Stabilität.
Die „offene Gesellschaft“ hatte von ihrer Abgeschlossenheit gegen Zweite und Dritte Welt profitiert. Der seinerseits utopische, ja ideologische Charakter kapitalistischer Wachstums- und Konsumverheißungen hatte in Poppers Denken keinen Platz gehabt. Mit den Folgekrisen der Globalisierung rückte unwiderruflich das schwierige Verhältnis von Ökonomie, Ökologie und sozialer Gerechtigkeit in den Blick. Nach den übersichtlichen Verhältnissen des Kalten Krieges sehnen sich inzwischen nicht wenige Popperianer zurück. Manche haben im globalen Islam einen neuen Feind „offener Gesellschaft“ entdeckt.
Schlagwörter: Antikommunismus, Jürgen Große, Karl Marx, Karl Raimund Popper, Offene Gesellschaft