22. Jahrgang | Nummer 20 | 30. September 2019

Querbeet

von Reinhard Wengierek

Meine Fundstücke im Kunstgestrüpp: Diesmal Woodstock-Feeling im Varieté, Houellebecq mit der Barbypuppe und ein Zahlensalat …

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Eigentlich ist es ganz simpel: Ein tolles Konzert, dazwischen tolle Artistik und fertig ist tolle Unterhaltung. Doch was heißt da „toll“? Es geht – wie zumeist in diesem Etablissement – um sagenhafte Artistik. Und diesmal vor allem: Um nichts weniger als das Fundament der Popmusik, um Klassiker, die fast allen Altersklassen dieser Welt in den Ohren klingen. Es geht um die Sixties, um den Epoche machenden Sound von Woodstock „Make Love, Not War“. Dazu braucht es hier bloß vier Kehlen und vier Musiker, die da furios aufdrehen im zauberhaften, märchenhaft glimmenden, dem so elegant intimen Wintergarten-Varieté zu Berlin. Woodstock plus Artistik, ja toll, aber darauf muss man eben erst mal kommen.
Sehr viel früher war hier im Stadtteil Schöneberg das „Quartier Latin“; ein legendärer Musikschuppen, ein Mekka des Rocks – gegründet 1970, ein Jahr nach Woodstock, und ganz in dessen Geist: Die musikbesessene Jugendrevolte gegen das Establishment, gegen Unrecht, Krieg, Lustfeindlichkeit, gefüllt mit Idealismus, mit hinreißender Lebens- und Zukunftsfreude – und eben mit bis dato ziemlich unerhörter Musik.
Der Wintergarten in der Potsdamer Straße, 1992 etabliert als schick-moderner Lustbarkeitssalon, hat also eine immerhin bemerkenswerte Vergangenheit: Er ist nicht nur eine kleinformatige Fortsetzung der historisch-pompösen Etablissement-Gründung weiland in der Friedrichstraße zur Kaiserzeit, er hat außerdem einen Vorgänger, freilich von stilistisch sehr anderer Art, nämlich das besagte Quartier Latin. Das war ein absoluter Hotspot jener 68er Emanzipationsbewegung in Westdeutschland (die DDR hörte mit via RIAS), die so viel zu tun hat mit dem amerikanischen Woodstock, diesem kulturell so prägenden Jugendfest mit den eine ganze Geisteshaltung umfassenden Schlagworten „Love, Peace, Happiness“.
Das war vor 50 Jahren. Und es ist eine schlagende Idee, das Jubiläum just hier – wer hätte es vermutet – im Wintergarten zu feiern mit der umwerfenden, so geilen wie romantischen, rauen wie zärtlichen Musik von damals sowie einer feinen Auslese gegenwärtiger Weltklasse-Artisten.
Bloß gut, dass ich mich rechtzeitig vom guten Presseplatz weit vorn weit nach hinten gesetzt habe; da war doch tatsächlich noch ein einzelner freier Tisch. Denn es hat mich nicht lange auf dem roten Plüsch gehalten, da fiebrierte ich am – ja doch! – am ganzen Leib, da schäumten die Gefühle, kochte das Blut, ruckten die Glieder, zuckte der Kopf. Und spätestens bei „Ruby Tuesday“ von den Stones gabs Schluckauf. Eine Träne der Rührung wurde heimlich beiseite gequetscht.
Was für eine Hitparade: Joe Cocker, Santana, Janis Joplin, Melanie, Jimi Hendrix, The Who, The Band und wie sie alle heißen, die mit ihren melodisch so prägnanten, so kraftvoll mitreißenden oder auch so berückend sehnsuchtsvollen, ja träumerischen Songs den Grundstock schufen für vieles, was folgte in der weltweiten Popkultur. Diese Art von Musik ist packend wie kaum eine der Moderne. Sie bleibt nachsingbar für jedermann und also lebendig im Gedächtnis über Generationen hinweg. In ihr steckt ein Optimismus, der herzensfroh macht und glücklich.
Ach ja, dazwischen das famose Artistenprogramm in der Luft wie am Boden – ganz einfach mit Keulen, Reifen, Bällen, Diabolos und doch sensationell gekonnt und trickreich inszeniert voller Überraschungen und Zauberei mit Spitzenkönnern, zusammengesucht aus aller Welt zwischen Kanada und Weißrussland. Teils gelingt den in herrlich psychedelische Farbenspiele getauchten Artisten die choreographierte Kongruenz mit der Musik, mal bleiben sie autonom als frappierende Hochleistungskünstler. – Man wird frohgemut wie selten entlassen in den Alltag.

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Auch in der Saison 2017/18, also der vorvergangenen Spielzeit (die Daten sind jetzt erst abrufbar beim Deutschen Bühnenverein), ist Shakespeare der meistgespielte Autor auf deutschsprachigen Bühnen: mit 100 Inszenierungen an den von öffentlicher Hand getragenen Schauspielhäusern in Deutschland, Österreich, der Schweiz; gefolgt von Brecht (47), Schiller (42) und Goethe. In der Oper führen Verdi, Mozart, Wagner die Liste an, für die 464 Theater ihre Daten lieferten.
Das Werk mit der höchsten Zuschauerzahl ist Bizets „Carmen“ (eine halbe Million). Danach folgt mit 400.000 Besuchern das Musical „Starlight Express“. „Winnetou und das Geheimnis der Felsenburg“ sahen unter freiem Himmel Bad Segebergs 388.000 Besucher, die Friedrichstadtpalast-Revue „One“ 360.000. Auf Platz fünf steht Mozarts „Zauberflöte“; Goethes „Faust“ schaffte es erst auf Platz 16. Auf Platz 23 der Werkstatistik liegt Lessings „Nathan“, gefolgt von Brechts „Dreigroschenoper“ und Shakespeares „Sommernachtstraum“.
23 Prozent der gezeigten Werke im Schauspiel schrieben weibliche Autoren. Im Musiktheater stammen gerade mal 18 der 321 verschiedenen Produktionen von Frauen.
Aufschlussreich auch der Blick auf die Entwicklung der Bühnenvereins-Statistik bezüglich der Schauspieler: In der Spielzeit 1991/92 gab es noch 3097 „abhängig beschäftigte Schauspieler“; fünf Jahre später nur noch 2007 und 2016/17 (der letzten verfügbaren Zählung) 1867. Macht etwa 40 Prozent Schwund im Vierteljahrhundert. Infolge der vielen Sparrunden.
Gleichzeitig jedoch wächst die Macht der Intendanten, die alljährlich dem Gesetz nach Schauspielerverträge auslaufen lassen können. Wer da keinen Star-Status hat oder nicht spurt oder der angeblich um jeden (künstlerischen) Preis durchzudrückenden ausbeuterischen Produktionsdichte nicht mehr standhält, hat sehr schlechte Karten. Zumal der Konkurrenzdruck enorm ist: Rund 200 bestens ausgebildete Absolventen allein der Dutzend staatlichen Schauspielschulen (von den privaten abgesehen) gieren jährlich auf einen Vertrag als „Abhängig Beschäftigte“, also auf ein Erstengagement im öffentlich finanzierten Bühnenbetrieb (oder müssen sich für temporäre Projekte im Off oder TV verdingen). Ein übersättigter Markt, der sich rapide verkleinert, prägt die Lage. Da kann man gut ausbeuten bis aufs Blut.

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Der Ende der 1990er Jahre erschienene Roman „Ausweitung der Kampfzone“ wurde sofort Kult und machte seinen Autor zum intellektuellen Popstar. Der tief ätzende Sarkasmus von Michel Houellebecq (Jahrgang 1958), sein mit suizidalen Gedanken spielender Pessimismus, seine Beschreibung qualvoller Vereinsamung, seine Lebens-, Zukunfts- und Todesängste, seine sexuellen Ausschweifungen und Nöte und schließlich sein Elend mit den gnadenlosen Zwängen der totalen Freiheit (Verlust aller Bindungen) wie des Kapitalismus‘ (Auslese, Wettbewerb, Konsumterror) – das alles fügt sich, philosophisch grundiert, zu einem trostlosen Gesellschaftsbild, das zugleich als Warnbild gelesen werden kann.
Schlimme Wahrheiten über unser gegenwärtiges Menschsein; kaum Aussichten auf Besserung. „Der Wirtschaftsliberalismus ist die erweiterte Kampfzone, das heißt, er gilt für alle Altersstufen und Gesellschaftsklassen. Ebenso bedeutet der sexuelle Liberalismus die Ausweitung der Kampfzone, ihre Ausdehnung auf alle Altersstufen und Gesellschaftsklassen“, schreibt Houellebecq in seinem formal zwischen Erzählung, innere Reflexion und Essayistik mäanderndem Romandebüt.
Ein großer, epischer Text, schwierig fürs Theater, weil ohne wirklich dramatische Erzählung. Nur soviel: Ein 30 Jahre alter IT-Ingenieur, einsam, schwer depressiv und voller Selbsthass, geistert durch die französische Provinz, den beruflichen, sexuellen und vielleicht wenigstens zwischenmenschlichen Erfolg suchend. Es gibt unmögliche, ja ins Absurde ragende Situationen, viele gallebittere, tieftraurige Momente und dazwischen reichlich eloquente Reflexion von bedenkenswert tiefsinniger oder grotesk-witziger Art.
Der Regisseur Ivan Panteleev hat sich fürs Berliner Deutsche Theater eine feine reiche Auswahl davon zusammen gesucht, ergänzt mit Passagen aus Houellebecq-Interviews. Doch er hat es nicht vermocht, sie auch in treffliche theatralische Bilder zu packen. Eine Handvoll großartiger, rührend und schweißtreibend bemühter DT-Spieler/Sprecher bringen sie durchaus eindrücklich zu Gehör, können jedoch keine Kraft und Wirkungsmacht entfachen.
Weil: Sie müssen zwei Stunden lang unaufhörlich in ständig wechselnder Kostümierung zwischen albernen, nichtssagenden Requisiten hindurch wuseln oder mit ihnen was machen (mit Plastikfröschen beispielsweise), müssen auf Gerüste klettern, Fitnessgeräte nutzen, in einer Sauna schwitzen, Fleisch braten, Salat essen, Wein trinken, tanzen, durch einen Kühlschrank kriechen oder eine riesige Barbypuppe begrapschen. Lauter Quatsch, der den scharfen Texten keinen Halt gibt, der alles verballhornt. Zum Kichern.
Doch die Sache ist nicht so. Sie ist schlimm und weh tuend und ängstigend. Es ist entweder Hilflosigkeit dem Text gegenüber oder ein Missverständnis der Regie, den Autor von oben herab bloßstellen und hochmütig abtun zu wollen als den totalen Schwarzmaler, den fatalen Abgrundseher. Wenn schon kritischer Diskurs gewollt sein sollte, dann aber auf Augenhöhe mit Houellebecq. – Man greife zum Buch und spare sich Panteleevs Ausweitungen ins Lächerliche.