von Mathias Iven
An einem Wintertag des Jahres 1930/31 – er schrieb gerade an seinem Roman „Die Blendung“ – betrat Elias Canetti die Buchhandlung von Richard Lanyi in der Kärntner Straße. Als er den Laden verließ und sich auf den Weg in seine im 13. Wiener Bezirk gelegene Wohnung machte, hatte er zwei schmale Bändchen in der Tasche: „Die Verwandlung“ und „Ein Hungerkünstler“. Franz Kafka, der Autor dieser Erzählungen, sollte ihn ein Leben lang beschäftigen.
Susanne Lüdemann und Kristian Wachinger, beide bestens vertraut mit Canettis Werk und Nachlass, haben jetzt einen Band herausgegeben, der dessen mehr als sechs Jahrzehnte währendes Interesse an Kafka dokumentiert. Neben dem 1948 gehaltenen Vortrag „Proust – Kafka – Joyce“, dem Essay „Der andere Prozess. Kafkas Briefe an Felice“ von 1968 und der anlässlich der Verleihung des Johann-Peter-Hebel-Preises gehaltenen Rede aus dem Jahre 1980 – alle drei Texte sind bereits an anderer Stelle erschienen –, sind es vor allem die zwischen 1946 und 1994 entstandenen und zumeist unveröffentlichten Notate, die Beachtung verdienen.
Der größte Teil dieser erstmals publizierten Aufzeichnungen stammt aus dem Zeitraum zwischen dem 2. September 1967 und dem 23. Dezember 1968. Canetti arbeitete in dieser Zeit in London an seinem großen Essay „Der andere Prozess“, der in zwei Teilen zuerst in der von Rudolf Hartung mitherausgegebenen Neuen Rundschau erschien. Ebenda wurden im Spätsommer 1967 einige der Briefe von Kafka an seine Verlobte Felice Bauer veröffentlicht. Nach der Lektüre notierte Canetti: „Das Herz blieb mir stehen, als ich las, um welche Geschichte es sich handelt.“ Auf Hartungs Anfrage, ob er nicht etwas darüber schreiben wolle, antwortete er Ende November 1967, „dass es nichts gäbe, womit ich mich lieber beschäftigen würde“.
Die Arbeit an dem Essay wird zu einer existenziellen Herausforderung. „Seine Identifizierung mit Kafka nimmt“, so Susanne Lüdemann in ihrem Vorwort, „teilweise wahnhafte Züge an.“ Canetti ist „verliebt in die Beschäftigung mit Kafka“. Er spürt, dass er ihm verfällt, so wie Kafka Felice verfiel. Zugleich beschleicht ihn „ein Gefühl der Unverschämtheit, mit der ich in sein persönlichstes Unglück eingedrungen bin“. Anfang Januar 1968 hält er fest: „Ich werde an ihm wieder zum Dichter. Ich erkenne auch den ungeheuren Abstand zwischen mir und ihm und schäme mich für die Armseligkeit meiner bisherigen Leistungen.“ Nur wenige Wochen darauf scheint alles vorbei zu sein: „Ich sollte den Essay liegen lassen und mich bei Hartung mit Unfähigkeit entschuldigen.“
Am 21. August 1968 erreicht ihn die Nachricht von der Niederschlagung des Prager Frühlings. „Prag besetzt, die Russen in Prag, das Entsetzliche ist geschehen, alle Hoffnungen begraben, die Folgen unabsehbar.“ Herausgerissen aus dem Schreiben muss Canetti ständig an das denken, was sich in der tschechischen Hauptstadt abspielt. Unter dem Datum des 30. August heißt es: „Und jetzt soll ich in diese Arbeit über Kafka zurückfinden. Dass es um dieselben Orte geht, macht es nicht leichter. Ich muss es aber tun, denn ich fühle, wie ich über den politischen Dingen den Verstand verliere.“ – Am 20. September 1968 schickt er Rudolf Hartung die letzten Seiten des Essays.
Auch danach taucht Kafkas Name immer wieder in Canettis Aufzeichnungen auf. Vor allem dann, so Susanne Lüdemann, „wenn es darum geht, Einflüsse zu sortieren und so eine Genealogie, einen Familienroman der modernen Literatur zu erstellen“. Einer, der in diesem Zusammenhang nicht fehlen darf, ist Robert Musil. Aus den Briefen an Felice weiß Canetti nicht nur, dass sich Musil und Kafka im April 1916 begegnet sind, sie haben sich vor allem gegenseitig „ernst genommen“. In einer Notiz ist zu lesen: „Es wird unerlässlich sein, dich mit Musil ebenso intensiv zu beschäftigen wie mit Kafka.“ Musil ist nicht nur „die Antithese zu diesem Jahrhundert“. Canetti hält ihn, wie er in einem Brief betont, neben Kafka „für den größten Österreicher dieses Jahrhunderts“.
1981 wird Canetti von der Stadt Klosterneuburg der Franz-Kafka-Preis zuerkannt. Aus Krankheitsgründen kann er nicht an der Preisverleihung teilnehmen. Seine leider nicht in den Band aufgenommene Dankesrede wird vom Laudator, dem österreichischen Autor, Literaturkritiker und Essayisten Wolfgang Kraus, verlesen. Darin heißt es: „Meine Erfahrungen mit Kafka dauern aber immer noch an. Seit 51 Jahren lebe ich mit ihm, länger, als er selbst gelebt hat. Das ist das einzige Recht, das ich auf ihn habe: es gelingt ihm nicht, in mir zu sterben. Wenn es so wäre, dass ich ihm noch begegnen könnte, würde ich ihn nichts fragen. Ich würde ihm mit der Scheu und der Ehrfurcht für alles Leben begegnen, die ich von ihm gelernt habe. In seiner Gegenwart würde es mir gelingen, zu verstummen und zu schweigen.“
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Blicken wir noch einmal zurück. Unter dem Datum des 25. Dezember 1953 findet sich in Canettis Aufzeichnungen folgender Eintrag: „Zwei sehr merkwürdige Stellen bei Kafka, die zusammenhängen (an zwei Tagen hintereinander geschrieben: 19. Oktober 1917, 20. Oktober).“ – Wie diese und weitere Textstellen zusammengehören, in welchem Kontext sie stehen und wie sie interpretiert werden können, all das erklärt der Kafka-Biograph Reiner Stach in seinem jüngsten Buch.
Am Morgen des 11. August 1917 erfuhr Kafkas Leben eine Zäsur: ein kurzer, erschreckend intensiver Blutsturz zeigte den Ausbruch einer Tuberkuloseerkrankung an. Anstandslos gewährte ihm die Prager Arbeiter-Unfallversicherung einen verlängerbaren Genesungsurlaub. Der geeignetste Ort für eine schnelle Gesundung schien ihm eine ländlich-dörfliche Umgebung zu sein. Und so reiste er denn zu seiner Schwester Ottla, die seit April 1917 den Hof ihres Schwagers in dem nordwestböhmischen Dörfchen Zürau bewirtschaftete. Als Kafka dort am 12. September eintraf, ahnte er nicht, dass er volle acht Monate bleiben würde.
Er beschäftigte sich auf dem Hof, half bei der Kartoffel- und Hopfenernte, erholte sich im Liegestuhl und schrieb Briefe an seine Prager Freunde. Doch es gab auch noch, so Reiner Stach in seinem Nachwort, eine für alle „verborgene Dimension seiner Zürauer Existenz“, nämlich zwei unscheinbare Oktavhefte. Erstmals im Herbst 1953 fast vollständig von Kafkas Nachlassverwalter Max Brod in dem Band „Hochzeitsvorbereitungen auf dem Lande und andere Prosa aus dem Nachlass“ veröffentlicht, sind sie eine von Korrekturen durchzogene Ansammlung oftmals flüchtiger Notizen, erzählerischer Anläufe und alltäglicher Reflexionen und stellen zugleich „so etwas wie einen weltanschaulichen Entwurf mit theologischer Grundierung“ dar. Möglicherweise noch in Zürau, gegen Ende seines Aufenthaltes, begann Kafka im Frühjahr 1918 seine Aufzeichnungen sorgfältig zu sichten. In chronologischer Reihenfolge schrieb er einzelne Notate auf bereits nummerierte Zettel, in etlichen Fällen wurden die Texte im Zuge der Abschrift korrigiert. Insgesamt sind 105 derartige Zettel überliefert, heute allgemein bekannt als „Aphorismen“ oder „Zürauer Aphorismen“.
Weder die Forschung noch die Leser haben diesen Aphorismen, die unzweifelhaft „zu den originellsten geistigen Schöpfungen des 20. Jahrhunderts“ zählen, bisher die entsprechende Aufmerksamkeit geschenkt. „Wer ihnen folgt“, das meint zumindest Stach, „gerät in unvertrautes, bisweilen unwirtliches, dann wieder schrecklich schönes Gelände.“ Es mag sein, dass ihre sprachliche, bis an den Rand der Verstehbarkeit gehende Verdichtung irritiert oder dass surreale Bilder verwirren. Vieles bleibt dem Nachdenken des Lesers überlassen, „kein Gestus [ist] ihnen fremder als die Suche nach der Pointe“. Kafka am Zitatenschatz der deutschen Aphoristik messen zu wollen, wäre verfehlt. Um noch einmal Elias Canetti zu bemühen, sei auf dessen Feststellung aus dem Jahre 1943 hingewiesen: „Die großen Aphoristiker lesen sich so, als ob sie einander gut gekannt hätten.“ Bei der Lektüre von Kafkas Aphorismen, ist von solcherart Wesensverwandtschaft nichts zu spüren.
Wie schon in seiner großen Kafka-Biographie, so führt Reiner Stach auch in diesem Buch mit einer unübertroffenen Eleganz und Sachkenntnis durch das schrecklich schöne Gelände von Kafkas oftmals rätselhafter Gedankenwelt.
Elias Canetti: Prozesse. Über Franz Kafka, Carl Hanser Verlag, München 2019, 381 Seiten, 28,00 Euro.
Franz Kafka: „Du bist die Aufgabe“ – Aphorismen, herausgegeben, kommentiert und mit einem Nachwort von Reiner Stach, Wallstein Verlag, Göttingen 2019, 252 Seiten, 24,00 Euro.
Schlagwörter: Elias Canetti, Franz Kafka, Mathias Iven, Rainer Stach