22. Jahrgang | Nummer 19 | 16. September 2019

Hexerei auf Rügen

von Dieter Naumann

Eines der wohl finstersten Kapitel des Mittelalters und der frühen Neuzeit sind Hexenprozesse, von denen auch Rügen nicht verschont wurde. Der Begriff „Hexe“ bedeutete laut Alfred Haas (Baltische Studien, 1932) ursprünglich „Zaunweib“ oder „Walddämonin“ und wurde in seiner harmlosen Verwendung als Schimpfwort für eine bösartige, zänkische, unangenehme oder hässliche weibliche Person genutzt. Mit seiner Anwendung auf Männer, Frauen und sogar Kinder, denen Zauberei vorgeworfen wurde, setzte die Hexenverfolgung ein, die Anfang des 13. Jahrhunderts zur Entstehung der Inquisition führte. Hatte Matthäus Normann um 1540 im Wendisch-Rügianischen Landgebrauch noch befriedigt festgestellt, dass man auf Rügen „got lof und dank!“ von Zauberinnen bisher nicht viel gewusst habe, so änderte sich das bald, und vor allem nach dem Dreißigjährigen Krieg kam es zum hundertfachen „legitimierten“ Justizmord an vermeintlichen Hexen.
Am Altar der bereits Ende des 13. Jahrhunderts erwähnten Kirche des kleinen rügenschen Ortes Rappin, südlich des Großen Jasmunder Boddens und des Tetzitzer Sees, findet der aufmerksame Besucher einen indirekten Hinweis auf eine vermeintliche Hexe. Der beeindruckende Altaraufsatz, entstanden um 1669, wurde der Kirche von Pastor Andreas Horn (1626–1710) und seiner Frau Anne, geborene Mützow, zum Geschenk gemacht. Anlass war der frühe Tod von neun der 15 Kinder der Familie. Auf einer Tafel ist zu lesen: „Dem Heiligen Gott zue Ehren: Den Einfaltigen zue christlicher Erbawung: Wie auch ihren beiderseits selig in Gott verstorbenen 9. Kindern […] zue gutem Andencken haben dieses Altar in diese Rappihnsche Kirche Ano 1669, setzen lassen beiderseits Eheleute Andreas Horn, Pastor alhie, aet: 42. Minist. 19 Anna Müssowen, aet: 30, coniguii 18.“ Den Altar zieren neun Cherubköpfchen, die wohl die Kinder symbolisieren sollen. Ernst Heinrich Wackenroder (Altes und Neues Rügen, 1732) bemerkte dazu: „Es ward […] eine Zauberinn in Verhafft genommen, die diesen Kinder-Mord auf der Tortur gestand, weswegen sie zu Stralsund, unter welcher Stadt Jurisdiction sie gehörete, verbrandt worden.“
Unter welchen Umständen die Kinder des Pastorenpaares tatsächlich gestorben sind, ob sie wirklich durch eine „verbrecherische Amme“ getötet wurden, bleibt offen, da die Prozessakten nicht mehr vorhanden sind. Das „auf der Tortur“ abgelegte „Geständnis“ wirft zumindest Zweifel auf, zumal die Säuglings- und Kindersterblichkeit zu jener Zeit noch hoch war.
Rechtsgrundlagen der Hexenprozesse bildeten zum einen kirchliche Gesetze wie die Hexenbulle (Bulle Summis desiderantes) von Papst Innocenz VIII. von 1484 und der vom gleichen Papst initiierte Hexenhammer (Malleus maleficarum), der von den Dominikaner-Inquisitoren Heinrich Kramer (Henricus Institoris) und (unsicher) Jacob Sprenger verfasst und 1486 gedruckt wurde. Bis 1669 erlebte er 28 Auflagen. Zum anderen trug auch weltliche Gesetzgebung zur Hexenverfolgung bei, etwa der Sachsenspiegel aus dem 13. Jahrhundert, die Peinliche Halsgerichtsordnung von Kaiser Karl V., auch Carolina genannt (1532), und der Wendisch-Rügianische Landgebrauch (1525–1531) von Matthäus Normann, wonach „bekande tövererschen (Zauberinnen – D.N.) gebrant heft“.
Die „Rechtmäßigkeit“ der von Stralsunder Richtern geführten Prozesse gegen rügensche „Hexen“ wurde durch das Einholen von Gutachten von den Juristischen Fakultäten der Universitäten Rostock und Greifswald bestätigt. Die Fakultät oder der sogenannte „Schöppenstuhl“ in Stettin gaben die Erlaubnis zur Folter, wenn die Angeklagten hartnäckig „leugneten“. Zwar wurden anfangs einige Prozesse noch wegen unzureichender Indizien niedergeschlagen, generell hatten aber nur wenige der bedauernswerten Frauen so viel Glück wie die „Hexe von Sassitz“ bei Bergen, bei der das Gericht 1626 feststellte, dass die falschen Anschuldigen von einer schlecht beleumundeten Magd stammten, die dafür des Landes verwiesen wurde.
Die zum Verlauf der Hexenprozesse gehörende Folter („peinliche Befragung“) bestand aus mehreren Graden von der Drohung mit der Tortur bis zur Anwendung von Daumenschrauben, Beinschrauben („Spanische Stiefel“), des „Gespickten Hasen“ (Ziehen über eine Rolle mit eisernen Spitzen), der „Pommersche Mütze“ oder „Huuwe“ (Zusammenziehen eines um den Kopf gelegten eisernen Ringes oder Strickes) und anderer Methoden.
Es bedarf wohl keiner Erläuterung, dass die Aussicht, diesen Qualen ein Ende zu bereiten, zu Geständnissen selbst absurdester Vorwürfe, aber auch zu Selbstanklagen der abergläubischen Menschen führte. Zumal es unter den Scharfrichtern als Schmach galt, wenn sie eine ihnen zugewiesene Person durch die Tortur nicht zum Geständnis brachten.
Da im Rahmen des Prozesses nach weiteren „Hexen“ gefragt wurde (sogenannte „Besagung“), konnte es zu regelrechten Kettenprozessen kommen. Eine geständige Hexe wurde grundsätzlich durch Feuer auf dem Scheiterhaufen hingerichtet, selten erwies man ihr die „Gnade“ der vorherigen Tötung durch Enthaupten oder Erdrosseln.
Häufig führten falsche Anschuldigungen aus Neid, Missgunst, Besitzgier, Rachegefühlen oder anderen niederen Instinkten, aber auch die Suche nach Erklärungen und Sündenböcken für Kriege, Katastrophen, Brände, Unglücksfälle, Kindstod, unerklärliche Witterungsunbilden, Viehsterben, Missernten, Misserfolge beim Brauen, Backen, Buttern, der übliche Dorfklatsch oder Weibergezänk dazu, dass zunächst vor allem allein lebende Frauen der Unterschicht mit ungewöhnlichem Lebenswandel nicht nur im Dorf isoliert, sondern auch in den Fokus der Inquisition gerückt wurden. Banale Alltagskonflikte konnten also mit der gerichtlichen Verurteilung von Zauberinnen oder Hexen „gelöst“ werden, unerklärliche Phänomene fanden damit ihre einfache „Erklärung“. Später gerieten auch gutsituierte und adlige Personen, Männer und sogar Kinder unter die Anklage. Theoretisch konnte es also jeden treffen, unabhängig von Geschlecht, Herkunft, Beruf und Stand – schließlich machten nach herrschender Auffassung der Teufel und seine Helfershelfer, die Hexen, auch keine Unterschiede bei ihrem Zauberunwesen.
Mitleid mit einer „Hexe“ oder Zweifel an ihrer „Schuld“, vor allem wenn sie aus der Nachbarschaft oder dem Freundeskreis stammte und man ihr Hexerei nicht zutraute, konnten dazu führen, selbst in Verdacht zu geraten, und wurden deshalb meist nicht öffentlich geäußert. Hinzu kam, dass es für Menschen mit niedriger Bildung und fehlendem Zugang zu verlässlichen Informationen kaum Alternativen zu den Aussagen der Hexenjäger gab, die sich als „Experten“ doch auskennen mussten. Ihnen zu glauben war das Nächstliegende.
Erwähnt sei, dass Richter, Gerichtspersonal und Henker wirtschaftlich von den hohen Prozesskosten, die durch die Familien der Angeklagten zu tragen waren, durchaus profitierten.
Zwar hatte die schwedische Königin Christina (1626–1689), zweite Tochter des schwedischen Königs Gustav II. Adolf, bereits 1649 ein Gesetz erlassen, nach dem in Schwedisch Pommern alle Inquisitionsprozesse eingestellt werden sollten („ so thun wir […] euch hiemit gnaedigst und ernstlich anbefehlen, daß ihr […] alle fernere Inquisition und Process in diesem Hexen-Unwesen einstellet.“), tatsächlich wurde die Hexenverfolgung aber erst Ende des 18. Jahrhunderts beendet.
Der vermutlich letzte Hexenprozess gegen eine Frau von Rügen fand 1677 in Stralsund statt. Eine Müllersfrau aus Maltzien auf Zudar wurde auf einer Anhöhe neben der Zudarschen Bucht verbrannt.