22. Jahrgang | Nummer 19 | 16. September 2019

Herbstspaziergang über den Jüdischen Friedhof Weißensee

von Bettina Müller

Manchmal ist es ganz still in Berlin-Weißensee. Der Lärm der Großstadt dringt nicht bis zu dieser Oase der Ruhe vor. Stolze 43 Hektar misst die Fläche des größten jüdischen Friedhofs in Europa, der seit 1880 mit kriegsbedingten Unterbrechungen von der Jüdischen Gemeinde von Berlin genutzt wird. Der junge Widerstandskämpfer Herbert Baum, geboren 1912 in Moschin in der Provinz Posen, war der Namensgeber der Straße, die bis 1949 noch Lothringenstraße hieß. Sie zweigt von der belebten Berliner Allee ab und führt direkt bis zum Portal des Friedhofs. „Er war ein vorbildlicher Kämpfer gegen Krieg und Faschismus“ heißt es auf seinem Grabstein. Die Rückseite wird geziert von den Namen derjenigen Mitstreiter, die das Mitglied des Kommunistischen Jugendverbandes Deutschlands dazu bewegen konnte, Widerstand zu leisten.
Nach einem gescheiterten Brandanschlag auf die nationalsozialistische Propaganda-Ausstellung „Das Sowjetparadies“ am 18. Mai 1942, an der unter anderem auch Baums Ehefrau Marianne beteiligt war, erfolgte eine große Verhaftungswelle. Die Beteiligten an dem Anschlag henkte man bis auf Baum, der unter ungeklärten Umständen in seiner Moabiter Gefängniszelle starb und dann auf dem Marzahner Friedhof verscharrt wurde, wo man ihn erst Jahre später entdeckte und exhumierte. Vor 70 Jahren wurde Baum schließlich am 11. September 1949 in Weißensee bestattet.
Heute ist die Grabstätte ein Ehrengrab der Stadt Berlin. Geht man rechts an der Außenmauer entlang, sieht der Besucher sehr repräsentativ gestaltete Grabmäler. Viele sind in einem sehr desolaten Zustand. Der Blick fällt auf einen berühmten Namen: Tucholsky. Es ist die letzte Ruhestätte der Eltern des Schriftstellers, doch das Grab der Mutter ist leer, eine Gedenktafel erinnert an die in Theresienstadt Ermordete. Auch Kurt Tucholskys Lieblingstante, die Lehrerin und Übersetzerin Berta Tucholsky, eine Schwester des Vaters, musste dort qualvoll sterben, und man verewigte ihren Namen auf dem Grabstein ihrer Schwester Flora, die 1929 an einer Fischvergiftung gestorben war.
Steine auf den Gräbern, die die Besucher mitbringen, zeugen von dem Gedenken an die Toten: je mehr Steine, desto prominenter der Verstorbene, so dass auf manchen Grabsteinen, wie zum Beispiel dem des Rabbiners Leo Baeck, kaum noch Platz bleibt. Blumenschmuck ist im jüdischen Glauben eigentlich nicht vorgesehen, und vor allem auch nicht, dass Gräber eingeebnet werden, weil sie dem Toten gehören, der darin seiner Auferstehung am Jüngsten Tag harrt.
Feld K 2: In diesem durch die vielen großen alten Bäume sehr schattigen Bereich liegt das Familiengrab der Wieners, dem Sanitätsrat Dr. Wilhelm Wiener, seiner Ehefrau Doris, geborene Müller, und der Tochter Selma, die in jungen Jahren starb. Doch das Grab des Sohnes Josef, Schriftsteller und als ULK-Chefredakteur Nachfolger von Tucholsky, sucht man an dieser Stelle vergeblich. Er, der sich einst in Reminiszenz an seine ostpreußische Heimatstadt den Künstlernamen Josef Wiener-Braunsberg zulegte, wurde nach seiner Einäscherung im Wilmersdorfer Krematorium auf dem dortigen evangelischen Friedhof beerdigt. Magnus Davidsohn, damals Oberkantor der Synagoge in der Fasanenstraße, hielt für ihn die Trauerrede.
Fast 116.000 Menschen wurden seit seiner Eröffnung in Weißensee bestattet. Viele setzten sich mit der Architektur ein großzügiges Denkmal, was auch im Widerspruch zum jüdischen Glauben steht, wonach alle Menschen im Tod gleich sind. Das monumentalste, aber nicht unbedingt schönste Bauwerk ist das Aschrott-Mausoleum aus rotem Granit für den Kommerzienrat Sigmund Aschrott, dessen Erbauer Dr. Bruno Schmitz unter anderem auch das wenig dezente Leipziger Völkerschlacht-Denkmal entworfen hatte.
Auf dem Spaziergang über den Friedhof, für den man einen Orientierungsplan beim Friedhofsinspektor bekommt, begegnet man überall berühmten Namen: Verleger (Samuel Fischer), Politikerfamilien (Rathenau), Frauenrechtlerinnen (Jenny Apolant), Maler (Lesser Ury), Industrielle (Orenstein und Koppel), Ärzte (Fraenkel), Warenhauskönige (Tietz), die Liste ließe sich noch lange fortsetzen. Mit ihnen hat sogar ein veritabler Zauberkünstler namens Samuel Bellachini seine letzte Ruhe an diesem „guten Ort“ gefunden, wie die jüdischen Friedhöfe auch genannt werden.
Natürlich wurden auf dem Friedhof nicht nur „Promis“ begraben. Hinter vielen Grabsteinen verbergen sich aber auch veritable Tragödien. Der junge Manasse Friedländer erschoss Anfang 1929 in Berlin seinen Bruder Waldemar und den gemeinsamen Freund Tibor Földes. Ein „Sensationsprozess“, wie die Presse ihn schnell titulierte, war die Folge, bei dem sogar das Gerichtsgebäude aufgrund des großen Publikumsandrangs zeitweise gesperrt werden musste. Manasse erkrankte schließlich in der Untersuchungshaft an „Haftpsychose“ und endete in der „Irrenanstalt“ Herzberge. Jahre später deportierte man ihn nach Lettland in den sicheren Tod. Die Grabstätte der beiden Opfer, die nebeneinander beerdigt wurden, muss man lange suchen und sich zunächst einen Weg durch das Dickicht bahnen. In diesen Momenten wünscht man sich manchmal insgeheim eine Dschungel-Expeditionsausrüstung inklusive Machete, um sich den Weg zu bahnen.
Viele Gräberfelder sind in diesem Zustand, eine Folge des Zweiten Weltkriegs, als der Friedhof erst mal sich selbst überlassen war. Heute ist die wilde Pracht an manchen Stellen durchaus gewollt, weil sie Lebensraum für seltene Pflanzen und Tiere bietet. Die Deutsche Bundesstiftung Umwelt fördert das mittlerweile als „UN-Dekade Biologische Vielfalt“ ausgezeichnete Projekt „Naturschutz und Denkmalpflege auf dem Jüdischen Friedhof Weißensee“, eine Kooperation der Technischen Universität Berlin mit der Jüdischen Gemeinde.
Hat man es dann endlich ansatzweise die Natur besiegt, auch ohne Machete, muss man erkennen: natürlich hat die Gräber seitdem niemand besucht. Die Steine sind umgestürzt, die Inschriften kaum noch lesbar, die Opfer vergessen. Auch den Namen Hugo Krayn kennt heute kaum jemand mehr. Krayn, ein äußerst talentierter Maler und Radierer, dem Experten wie Lovis Corinth eine große Karriere vorhersagten, erlag am 25. Januar 1919 im Alter von nur 33 Jahren der Spanischen Grippe.
Die Grabmalarchitektur in Weißensee ist so vielfältig wie die Menschen es waren. Die Familiennamen der Berliner Juden sind heute aus dem gesellschaftlichen Leben verschwunden, doch wie ein Wunder hat dieses „steinerne Gedächtnis“ des jüdischen Berlins die Zeit überdauert, und so hat man die Möglichkeit, in dieser Stadt der Toten doch äußerst lebendig in die Vergangenheit zu reisen. Nur nicht an den jüdischen Feiertagen und samstags: am Schabbat hat der Friedhof grundsätzlich geschlossen.

Die Autorin hat den vergessenen „Kriminalfall Manasse Friedländer“ ausführlich in der Februar-Ausgabe der Zeitschrift Kriminalistik behandelt.